Im Tal der Schmetterlinge
sehen, bevor der Vogel wegflatterte, zu Boden stürzte und dann aus dem Blickfeld verschwand. »Oh, Kat, sieh doch bitte nach, ob es dem Vogel gut geht, ja?«, sagte meine Mutter.
»Natürlich. Komm mit, Jeremy.« Ich führte meinen Sohn an der Hand, um im Gras vor dem Haus nach dem Tier zu suchen. Dabei wurden Erinnerungen an all die vielen Male in mir wach, als ich meiner Mutter bei der Suche nach den Vögeln geholfen hatte, die gegen die Fensterscheiben geknallt waren. Meine Mutter hatte die Tiere sanft in ihren warmen Händen gehalten, bis sie schließlich zum Fliederbusch flatterten und sich dort benommen auf einen Zweig hockten. Ich konnte zu den schläfrigen Vögeln gehen und sie streicheln, und sie zwickten mich nur matt in die Finger. Meine Mutter beschützte sie vor den Katzen, bis sie das Bewusstsein wiedererlangten und es schafften, für sich selbst zu sorgen. Sie kannte sich mit Kranken aus, schien für diese Arbeit regelrecht geboren zu sein und strotzte vor Selbstbewusstsein, wenn sie sich um verletzte Tiere und Menschen kümmerte.
Der Vogel, ein männlicher Hausgimpel mit rotem Scheitel und roter Brust, hing an einem der niedrigen Äste des Flieders fest, bewusstlos, aber am Leben. Der rasche Herzschlag, der dem Ticken einer Timex-Uhr glich. Sein unglaublich leichter
Körper. Ich nahm ihn vorsichtig in die hohle Hand, um ihn Jeremy zu zeigen, und wartete auf den Moment, an dem er erwachen und ich ihm in den Zweigen des Flieders die Freiheit schenken konnte, doch stattdessen krümmte sich der Vogel in einem plötzlichen Anfall und schlug ein letztes Mal mit den Flügeln.
»Der Vogel fliegt los«, sagte Jeremy.
»Ich denke, er stirbt.«
»Wir geben ihm einfach etwas vom Geburtstagskuchen. Das macht ihn glücklich.«
»Sobald er tot ist, kann er nicht mehr essen. Oder fliegen.« Bevor ich meinen Sohn davon abhalten konnte, berührte er bereits den Bauch des Vogels. Besorgt hob ich den Gimpel aus Jeremys Reichweite. Weshalb eigentlich? Aus Angst vor Läusen? Vor Krankheitserregern, die Tiere in der freien Wildbahn haben könnten?
»Grandpa ist tot«, sagte er.
»Er wird noch ein wenig unter uns weilen.«
»Nein, der Grandpa.« Er zeigte auf den Busch, der die Stelle des alten Brunnens markierte. Der alte Mann war wieder da und blickte in unsere Richtung. Aus der Entfernung konnte ich sein Gesicht nicht erkennen.
Ezra öffnete das Küchenfenster. »Irgendetwas läuft unrichtig bei Gus!«, rief er. Meine Mutter hatte einen Arm um meinen Vater geschlungen, der in seinem Stuhl zusammengebrochen war. Er hustete, stöhnte und griff sich mit beiden Händen an die Brust. Sein Gesicht war grau. Ein Teil der Spielkarten, mit denen er eine Patience gelegt hatte, lagen nun auf dem Boden verstreut. »Ich rufe ein Notfallauto«, sagte Ezra.
»Ein Krankenwagen braucht eine halbe Stunde hierher. Es geht schneller, wenn wir Dad selbst fahren. Kannst du Mom rasch helfen? Sie braucht ihre Pillen.«
Ezra nickte und schloss das Fenster.
»Ist der Vogel tot?«, wollte Jeremy wissen.
»Beinahe.« Ich hielt den Vogel noch einen Moment in Händen, da vermutlich kein anderes Lebewesen sein Sterben betrauern würde. Sein Herzschlag verlangsamte sich, bis nach jedem Schlag eine immer länger werdende Pause eintrat. Ich wartete auf den nächsten Atemzug. Und den nächsten. Aber die Brust des Vogels war still.
6.
STÖHNEND DREHTE SICH mein Vater im Krankenhausbett zur Seite und übergab sich auf den Boden der Notaufnahme. Kniend wischte ich zusammen mit meiner Mutter das Erbrochene mit Papierhandtüchern auf. »Was soll ich nur tun, wenn er stirbt?«, flüsterte meine Mutter.
»Er wird nicht sterben«, sagte ich.
»Woher weißt du das?« Sie blickte auf, hoffnungsvoll, als besäße ich hellseherische Fähigkeiten. Da ich keine Antwort gab, riss sie mir das Papierhandtuch aus den Fingern und schob mich weg. Ich setzte mich auf den Stuhl neben Ezra und beobachtete, wie sie den Boden putzte. Ich erinnerte mich gut an diese Wut: Während Ezra in den Tagen nach seinem Schlaganfall im Krankenhaus lag, erklärte ich der Krankenschwester aufgebracht, dass ich diejenige sei, die meinen Ehemann waschen würde, nicht sie. Er war mein Ehemann. Ich musste wenigstens etwas tun.
Diese Krankenschwester. Aus Jamaika. Immer ganz in Rosa gekleidet. Rosafarbener Kittel, blassrosa Schuhe mit Kreppsohle. Sie hatte stets einen McIntosh-Apfel aus dem Okanagan Valley in ihrer Kitteltasche und bezeichnete die Avocados, die ich Ezra brachte,
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