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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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Ezras Schlaganfall gesprochen hatte, erklärte mir, dass ein Schlaganfallpatient sehr häufig nicht traurig ist, obwohl er weint, oder wütend ist, wenn er herumschreit. Vielmehr sei er in seinem Verhalten gefangen und könne nicht ausbrechen.
    »Er hat dich oder Jeremy nie geschlagen, oder?«, fragte meine Mutter.
    »Nein.«
    Hastig schrieb sie das Wort Notaufnahme oben auf die Seite und unterstrich es. »Planst du immer noch, ein zweites Kind zu bekommen?«
    »Wir haben es versucht. Ich habe die Hoffnung jedenfalls nie aufgegeben.«

    »Nach dem heutigen Morgen habe ich mich bloß gefragt, ob Ezra mit einem weiteren Kind überhaupt zurechtkäme?«
    »Keine Ahnung.«
    »Es wäre hart für ihn«, sagte meine Mutter. »Aber noch schwieriger für Jeremy und das Neugeborene, da sie mit seinen Ausbrüchen leben und immer leise sein müssen. Meine Mutter hat meinen Bruder und mich ständig ermahnt: Seid ruhig! Daddy geht es heute nicht gut . Wir wurden das Gefühl nicht los, es sei unsere Aufgabe, ihn bei Laune zu halten. Die meiste Zeit über wagten mein Bruder und ich nicht einmal zu wispern, wenn unser Vater zu Hause war. Das hat Spuren bei mir hinterlassen.«
    Ich nickte. Meine Mutter hatte nie die Stimme erhoben, auch wenn sie in meiner Kindheit schnell aus der Haut gefahren war. Stattdessen hatte sie ihren Zorn herausgeflüstert, als hätte es ihr die Stimme geraubt, weil sie als Kind immer still sein musste.
    Sie wandte sich wieder ihrem Notizblock zu und schrieb die Ereignisse des Morgens auf: der Vogel, der gegen das Fenster geknallt war, die rasante Fahrt mit meinem Vater in die Stadt, das Warten in der Notaufnahme. Ab und an schaute ich ihr aufs Papier, weil mich ihre Sicht der Dinge interessierte, doch es war wenig mehr als eine nüchterne Aufzählung und gab keinerlei Einblick in ihr Seelenleben.
    Ezra kehrte mit vorgewärmten Laken zurück. Er schob die Decke meines Vater beiseite, legte dann die warmen Laken auf seine Brust und breitete die Decke wieder darüber, damit die Hitze nicht entwich. »Als ich Schmerzen hatte, hat Wärme immer geholfen«, erklärte er.
    Mein Vater schien sich zu entspannen und lehnte sich in den Kissen zurück. Sein Atem kam nun weniger keuchend. »Es geht besser.«

    Ich nahm Ezras Hand. »Vielen Dank«, sagte ich. Er nickte und hob Jeremy von meinem Schoß.
    Ein Arzt schob den Vorhang beiseite. »Hallo, Gus. Sie hatten wohl Sehnsucht nach mir?«
    »Das ist unsere Tochter Kat«, sagte meine Mutter. »Und ihr Ehemann. Ezra.«
    »Ja, die Schriftstellerin. Wir kennen uns bereits.« Er streckte uns beiden die Hand entgegen. »Michael Ellis«, sagte er und drehte sich dann zu meinem Vater um. »Also schön, jetzt schauen wir Sie uns mal an, Gus. Sie hatten Brustschmerzen?«
    Mein Vater zeigte auf seine Rippen. »Hier.«
    Sanft drückte der Arzt gegen die Rippen meines Vaters, der augenblicklich zusammenzuckte.
    »Der Doktor tut Grandpa weh!«, rief Jeremy.
    Ich ergriff seine Hand. »Nein, er kümmert sich um Grandpa.«
    »Können Sie den Schmerz beschreiben?«, erkundigte sich Dr. Ellis. »Stechend? Scharf?«
    Mein Vater sog nickend die Luft ein. »Es ist schlimmer, wenn ich mich bewege.«
    »Er hatte einen Hustenanfall, als es anfing«, sagte ich.
    »Möglicherweise ist eine Rippe gebrochen.« Dr. Ellis bedeckte die Brust meines Vaters wieder mit den Laken. »Wir bringen Sie sofort zum Röntgen.« Er lächelte und war im nächsten Moment hinter den Vorhängen verschwunden.
    »Wie lange werden wir noch warten müssen?«, fragte mein Vater.
    »Ich bin sicher, dass gleich jemand kommt«, beruhigte ich ihn.
    Mein Vater hustete und stöhnte dann laut. »Es tut so höllisch weh.«

    »Sie müssen ihm etwas gegen die Schmerzen geben«, sagte meine Mutter wütend, schob die Vorhänge beiseite und humpelte auf der Suche nach einer Krankenschwester zwischen den Betten der Notaufnahme umher.
    »Mom, warte!« Ich holte sie gerade in dem Moment ein, als sie das Schwesternzimmer erreichte.
    »Tun Sie etwas!«, befahl meine Mutter der Krankenschwester, die dort stand. Ein älterer Mann in einem Rollstuhl hob den Kopf und betrachtete sie aufmerksam. »Er hat so schreckliche Schmerzen, dass er kaum atmen kann!«
    Ich hatte erwartet, die Krankenschwester würde meine Mutter beruhigen, ihr eine Hand auf den Arm legen und sie wie ein verzweifeltes Kind besänftigen, doch stattdessen schien sie von der Panik meiner Mutter aufgerüttelt zu werden. »Wir bringen ihn zum Röntgen«, sagte sie und folgte

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