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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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Hubschrauber mit Wassertanks flogen über uns hinweg und brachten die Fensterscheiben zum Klirren. Einwohner fuhren vollbeladen weg oder kehrten mit leeren Pick-ups zurück. Dieses geschäftige Treiben so früh am Morgen - all die anderen, die vom bevorstehenden Tod meines Vaters nichts ahnten, sondern sich auf die gerade stattfindende Krise konzentrierten - erschien mir in jenem Moment unerhört taktlos.
    »Wer ist das?«, fragte meine Mutter.
    »Hm?«
    »Da steht jemand auf dem Feld. Meine Augen haben sich dermaßen verschlechtert.«
    Ich suchte die Landschaft ab, bis ich eine dunkle Gestalt bemerkte, die sich aus dem Rauch und den frühmorgendlichen Schatten schälte. »Das ist dieser unheimliche alte Mann«, sagte ich. »Ich frage mich nur, was er will, warum er hier herumlungert. Ich sollte mal die Polizei anrufen. Wahrscheinlich hat er auch um das unfertige Haus herumgeschnüffelt. Es würde mich nicht wundern, wenn er es war, der mir in der Nacht nachgelaufen ist.«
    »Vermutlich bloß ein Schaulustiger, der eine gute Sicht aufs Feuer haben will.«
    »Er hat das Haus beobachtet. Ich will nicht, dass er in Jeremys Nähe ist. Er gehört nicht zu deinen Nachbarn, oder?«
    »Hast du sein Gesicht sehen können?«
    »Nein.«
    Jeremy schrie im Schlaf. Ich eilte zur Tür, doch meine Mutter nahm meine Hand. »Kann sich heute nicht Ezra um ihn kümmern?«
    »Oft wacht er dabei nicht auf«, sagte ich. Doch als ich das
Schlafzimmer verließ, war er dort, nur mit seiner Unterwäsche bekleidet, und trug Jeremy in die Küche.
    »Er hatte einen Alptraum«, sagte Ezra. »Er will eine Mama-Umarmung.«
    »Eine Mama-Umarmung! Kannst du bekommen!« Ich hob ihn aus Ezras Armen und presste Jeremy an mich. »Danke«, sagte ich, aber Ezra hatte sich bereits weggedreht und zog die Schlafzimmertür hinter sich zu.
    Ich trug Jeremy zurück ins Schlafzimmer meiner Eltern, wo meine Mutter am Fenster stand. »Steht der alte Kerl immer noch da?«, fragte ich sie.
    »Ich weiß nicht, wo er hin ist.«
    Jeremy reckte den Hals und sah zum Bett. »Kann ich Grandpa fest drücken?«
    »Das geht leider nicht, aber du kannst seine Hand halten.«
    Ich setzte ihn ab, und er streichelte Dads Hand, als würde er eine Katze liebkosen. »Grandpa ist richtig krank, nicht wahr?«
    »Grandpa liegt im Sterben. Genau wie der Vogel, der gestorben ist.«
    »Ich will Grandpa ein Stück vom Geburtstagskuchen geben!«
    »Er kann leider nicht mehr essen.«
    »Und wenn er tot ist, kann ich ihm dann was vom Geburtstagskuchen geben?«
    »Dann wird er auch nicht essen können«, sagte ich. »Genau wie der tote Vogel nicht mehr essen oder Wasser trinken kann.«
    »Oder Bücher lesen.«
    »Das stimmt. Grandpa wird keine Bücher lesen.«
    »Oder Pipi machen«, sagte Jeremy.
    Ich lächelte meine Mutter an. »Das stimmt. Wenn Grandpa
stirbt, wird er nicht mehr aufs Klo müssen. Oder fernsehen. Oder Traktor fahren. Oder herumlaufen.«
    »Der tote Grandpa läuft aber herum.«
    »Nein«, sagte ich. »Wenn Grandpa tot ist, kann er nicht mehr herumlaufen. Du erinnerst dich doch an den Vogel, der nicht mehr fliegen konnte, nachdem er gestorben ist.«
    »Nein! Der tote Grandpa läuft herum.«
    »Was meinst du damit?«
    Er zeigte aus dem Fenster. »Der tote Grandpa.« Ich konnte gerade noch den dunklen Umriss des alten Mannes im Luzernenfeld erkennen, bevor er wieder in den Rauchschwaden verschwand. »Er läuft draußen herum. Und die tote Grandma hier drinnen.«
    Meine Mutter presste eine Hand auf den Mund.
    »Der tote Grandpa hat Angst.« Jeremy öffnete die Arme. »Ich will den toten Grandpa fest drücken und ihm ein Stück vom Geburtstagskuchen geben.«
    Ich berührte meine Mutter am Arm. »Ist das die Grandma, die im Haus herumläuft?«
    »Nein! Das ist die Grandma, die lebt. Die tote Grandma läuft im Haus herum. Die tote Grandma will das Haus abbrennen. Marienkäfer, Marienkäfer, fliege weg, fliege weg!« Er zeigte zur Decke, und meine Mutter und ich blickten beide hoch: Die Decke war mit Tausenden von Marienkäfern übersät. Sie strömten die Wände herab, wie unzählige Karawanen aus winzigen VW-Käfern, die einen Highway entlangratterten.
    »Großer Gott!«, rief ich.
    »Marienkäfer, Marienkäfer, fliege weg, fliege weg!« Jeremy riss die Arme in die Höhe und tanzte durchs Zimmer. Hunderte Käfer ergriffen die Flucht, schwirrten unbeholfen um unsere Köpfe, landeten auf meinen Armen, dem Kopf meines
Sohnes, im Haar meiner Mutter und auf dem Gesicht meines Vaters. Sein

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