Im Tal der Schmetterlinge
- wie bei einem Gewitter - und bis zwölf kam, bevor sein Atem endlich wieder einsetzte. Als er Luft holte, klang es nach dem Röcheln einer alten Kaffeemaschine.
»Er hat Flüssigkeit in der Kehle«, erklärte Val. »Du musst dir keine Sorgen machen. Es stört ihn nicht.« Sie tätschelte ihm den Arm. »Ich werde versuchen, noch eine Mütze Schlaf zu bekommen. Wenn Dad wieder unruhig werden sollte, ruf mich, und ich verabreiche ihm eine weitere Dosis Morphium.« Sie schloss die Tür hinter sich.
Mein Vater hatte das Gesicht von mir weggedreht, aber ich konnte es im Spiegel sehen, der auf der Kommode meiner Mutter stand. Das halbmondförmige Weiß seiner Augen blitzte hervor. Ohne seine Zähne waren seine Wangen eingefallen, sein Mund wirkte wie ein kleines schwarzes Loch. Wäre da nicht das kaum merkliche Heben und Senken der Brust gewesen, hätte ich ihn für tot gehalten.
Eine Weile starrte ich die vertrauten Dinge auf seinem Nachttisch an. Seine alte Echo-Mundharmonika, die uralten Spielkarten in dem Lederetui, mit denen er seine Patiencen legte; seine Lieblingstasse; sein Klappmesser und den Gillette-Rasierer, den er schon seit Ewigkeiten benutzte und dem elektrischen Rasierer vorzog, den ich ihm irgendwann einmal zu Weihnachten gekauft hatte. Abgesehen von seiner Kleidung waren diese Gegenstände das Einzige im Haus, das allein ihm gehörte. Er war ein genügsamer Mann, kam ganz nach Onkel Valentine, der ihn großgezogen hatte. Ich nahm die Mundharmonika und spielte ihm leise »Good Night Irene« vor, genau wie er meiner Mutter an fast jedem Abend ihrer Ehe zum Einschlafen ein Ständchen gebracht hatte, und merkte, wie es mich innerlich zerriss. Schon sehr bald wären die Mundharmonika und seine wenigen Gegenstände sowie die Erinnerungen, die sie in uns auslösten, alles, was von ihm übrig blieb. Das Leben meines Vaters würde sich in Rauch und Asche auflösen.
Ich legte die Mundharmonika beiseite und beugte mich über seinen Oberkörper, um ihm ins Ohr zu flüstern. Ich konnte seinen Herzschlag an meiner Brust spüren. »Ich muss dich etwas fragen«, sagte ich. »Das ist zwar nicht der rechte Augenblick, aber wahrscheinlich meine letzte Gelegenheit.«
Er grunzte schwach.
»Ich habe die Briefe gefunden, die Grandma und Onkel Valentine einander geschrieben haben. Es waren Liebesbriefe, jedenfalls die meisten. Grandma schien zu glauben, dass Valentine Grandpa ermordet haben könnte.«
Mein Vater schürzte leicht die Lippen, wie ein Säugling im Schlaf.
»Hat er es getan?«, fragte ich.
Sein Puls beschleunigte sich. Während sein Herz gegen
meine Brust schlug, hatte ich das Gefühl, als würde mich ein Baby von innen treten. »Drück meine Hand ein Mal für Nein, zwei Mal für Ja«, sagte ich. »Hat Valentine Grandpa getötet?«
Er drückte meine Hand ein Mal.
»Also hat er ihn nicht getötet.«
Er drückte sie erneut.
»Weißt du, wer es getan hat? Hat irgendjemand Grandpa auf dem Gewissen?«
Seine Hand erschlaffte in meiner.
»Hast du es getan?«
Mein Vater drückte meine Hand, ohne sie wieder loszulassen. Er atmete schwer, und seine Brust senkte sich wie die Flügel eines Vogels, der zur Landung ansetzt.
»Ich hätte dich nicht fragen dürfen. Das war dumm von mir. Du wärst zu so etwas nie imstande.« Er versuchte mit aller Gewalt, die Augen zu öffnen, und sein Gesicht verkrampfte sich, als litte er furchtbare Schmerzen. Dann gab er ein Geräusch von sich wie das raue Krächzen einer Krähe, wie ein Kind mit Krupp.
»Val?«, rief ich. »Val!«
Meine Schwester hastete herbei und spritzte meinem Vater eine Dosis Morphium in die Flügelkanüle, die in seiner Brust steckte. Sein Gesicht verkrampfte sich noch mehr, als das Schmerzmittel in seine Venen strömte, und dann, wenige Sekunden später, entspannte es sich. Seine Hand lag nun schlaff in meiner.
Meine Mutter kam ins Zimmer gerannt, die Briefe noch fest umklammert. Ihr Gesicht war aschfahl vor Panik. »Was ist passiert? Was ist los?«
»Er brauchte bloß eine weitere Dosis«, sagte Val. »Er schläft jetzt.«
Meine Mutter sank in den Sessel. »Gott sei Dank!«
Val nahm ihre Hand. »Dir ist doch klar, dass Dad sehr wahrscheinlich noch heute Morgen sterben wird?«
»Das weiß ich. Du musst mir das nicht andauernd sagen. Ich hasse es nur, ihn in diesem Zustand zu sehen. Euer Vater wollte nicht so enden wie Valentine, vollgepumpt mit Drogen.«
»Es ist besser, wenn er den Schmerz nicht spürt.«
»Ich fühle mich schrecklich
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