Im Tal der Schmetterlinge
hilflos. Gibt es denn für mich gar nichts zu tun? Sein Mund sieht trocken aus. Kann ich ihm etwas Wasser einflößen?«
»Er soll kein Wasser trinken«, erwiderte Val. »Das erweitert die Zellen, verstärkt den Schmerz. Du kannst seinen Mund mit einem Wattebausch abtupfen, wenn du möchtest. Das ist auch erfrischend.« Sie holte einige in Plastik eingeschweißte Stäbchen, an deren Enden kleine Schwämme aufgesteckt waren. »Die Geschmacksrichtungen sind Zimt und Zitrone.«
»Zitrone«, sagte meine Mutter. »Er liebt seinen Zitronen-Baiser-Kuchen.«
Val riss das Plastik auf, tauchte den Schwamm in eine Tasse Wasser und hielt ihn meiner Mutter hin. »Berühr damit seinen Mundwinkel«, erklärte sie. »Er wird den Mund dann automatisch öffnen.«
»Wie ein Baby«, sagte meine Mutter. Und einem Säugling gleich nuckelte mein Vater an dem Schwamm, während meine Mutter ihm den Mund abtupfte. Es überraschte mich, dass dieses frühkindliche Relikt, dieser Ur-Reflex noch tief in ihm schlummerte und wieder zum Vorschein kam, sobald sich sein Verstand trübte.
Val rieb sich über die Augenbrauen. »Ich versuche noch mal, mich kurz hinzulegen.«
Meine Mutter blickte ihr hinterher und wartete ab, bis die
Tür zu meinem alten Zimmer geschlossen war, dann wandte sie sich an mich: »Sie hält mich für ein kleines Kind.«
Ich saß am Fußende des Bettes. »Nein, das tut sie nicht, Mom.«
Sie hob Harrison auf ihren Schoß. »Jedes Mal, wenn ich hereinkomme, hängt sie an ihm dran, umarmt ihn, berührt sein Gesicht. Sie lässt mich keine Sekunde mit ihm allein. Sie führt sich auf, als wäre sie seine Ehefrau.«
»Möchtest du jetzt ein bisschen mit ihm allein sein? Ich kann aus dem Zimmer gehen.«
»Nein, erst wenn es hell wird.« Sie streichelte die Katze. »Sonst ist es zu einsam.«
»Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Ich hätte nicht so laut rufen dürfen.«
»Er brauchte eine Spritze.«
»Ich denke, es war meine Schuld.«
»Wie kann es deine Schuld sein?«
»Ich habe ihn gefragt, ob er deinen Vater getötet hat.«
» Was?«
»Ich wollte wissen, ob Valentine ihn getötet hat. Das war immerhin Grandmas Vermutung. Dann habe ich gefragt, ob er es getan hat.«
»Und?«
»Er hat meine Hand gedrückt, um zu verneinen.«
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«
»Ich weiß nicht.« Ich umschloss die Hand meines Vaters mit meinen Händen und berührte seinen Ehering, der in die gelbliche, durchsichtig scheinende Haut des Fingers eingesunken war. »Je mehr ich über das Verschwinden deines Vaters und Grandmas Leben mit ihm erfahren habe, desto mehr beschlich mich das Gefühl, als würde ich ihr Leben wiederholen, ihren Entschluss, bei einem kranken Mann zu bleiben.
Ich musste herausfinden, was geschehen ist. Vermutlich wollte ich unbedingt erfahren, was geschehen wird, in meinem Leben.«
Meine Mutter bedeckte meine Hand mit ihrer. »Ezra ist nicht mein Vater. Jude ist nicht dein Onkel Valentine.« Sie tätschelte meine Hand. »Und du, meine Liebe, bist nicht meine Mutter.«
Wir saßen eine Weile schweigend da und starrten aus dem Fenster. Allmächlich erhellte ein Lichtstreifen den Himmel.
»Die Sonne geht bald auf«, sagte sie. »Vielleicht ist es Gus vergönnt, einen letzten Sonnenaufgang zu erleben.«
Als ich aufstand und hinaussah, knallte etwas gegen das Fenster, und meine Mutter und ich fuhren erschrocken hoch. Harrison sprang von ihrem Schoß und schlüpfte in die Küche. Ein Junko schlug mit den Flügeln gegen das Schlafzimmerfenster. Ich löschte die Lampe, dachte, der Vogel sei vom Licht angezogen worden, und er flog davon. Auf einmal erschien ein Gesicht am Fenster, das Gesicht einer alten Frau. Ich wirbelte herum, aber meine Mutter saß immer noch in ihrem Sessel - es konnte also nicht ihr Spiegelbild gewesen sein. Ich blickte zurück zum Fenster, und der Vogel prallte erneut gegen die geriffelte Scheibe. Ich sprang zurück. »O Gott!«
»Die Vögel geraten in Panik«, sagte meine Mutter. »Das Feuer treibt sie von den Bergen.«
»Ich habe das Gesicht einer Frau gesehen, das sich im Fenster gespiegelt hat. Eine Frau, die hier bei uns im Zimmer war.«
»Wahrscheinlich ist es so, wie dein Vater schon gesagt hat: Es war dein eigenes Spiegelbild, durchs Glas verzerrt.« Und dennoch stand meine Mutter auf und kam zu mir herüber, wobei sie ihr Knie schonte.
Draußen hatte der Kampf gegen das Feuer wieder begonnen. Feuerwehrautos und Armeefahrzeuge ratterten die Straße entlang. Mehrere
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