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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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Macht in diesem Möchtegernstaat wurde nicht in Sitzungsräumen ausgeteilt, sondern auf den ewigen Empfängen, am Spieltisch des Jockey Clubs und in den Cafés auf der Calle Plateros. Nicht umsonst drängten sich hier Politiker neben Großgrundbesitzern und Bankiers neben Industriellen. Sie alle warteten auf ihre Chance, sich mit den Fingern ihr Stück vom Kuchen zu greifen und ihre langen Zähne hineinzuschlagen.
    Heute aber mochten sie vergeblich warten. Der Präsident befand sich mit einer Gruppe nordamerikanischer Investoren in Verhandlungen, die sich um eine Eisenbahnlinie nach Süden drehten und offenbar länger dauerten als geplant. Vielleicht hatte der Fettwanst recht, und es war sinnvoll, in den Jockey Club vorauszugehen. Langweiliger als hier konnte es nicht einmal dort sein, und zumindest die Getränke waren weniger ungenießbar.
    Leere, die er nur allzu gut kannte, breitete sich in Jaime aus. Die Stellung, die er tagsüber innehatte, der Vorsitz einer Aufsichtsbehörde, die es offiziell gar nicht gab, hatte Kurzweil versprochen, doch die lachhaften Kinderschuh-Umstürzler, deren Zeitungen er inspizierte, hatte er bald bis zur Halskrause satt. Und die Abende in der sogenannten Creme der Gesellschaft waren noch übler. Der Fettwanst nippte am beschlagenen Glas und schwatzte von längst verblichenen Triumphen. Aus sämtlichen Mündern fand das hohle Gerede Widerhall. Derzeit ereiferten sich die Herrschaften wie Schulmädchen über ein angebliches Gespenst, das nachts durch die Straßen um die Calle Plateros zog und Schmähbilder des Präsidenten an Häuserwände malte. Wenn am Morgen ein Polizist auftauchte, waren die Gemälde bis auf den letzten Pinselstrich verschwunden, doch das abergläubische Volk hielt unbeirrt an seinem Schauermärchen fest.
    »Ach was!«, rief Jaime jäh und sprang auf. »Sie haben recht, gehen wir.«
    Er ertrug es nicht länger. Wie so oft hatte er auch an diesem Tag die verschwindende Hoffnung gehegt, etwas möge geschehen, ein Skandal, ein Unglück, nur irgendetwas, das die Qual der Langeweile unterbrach. Jemand hatte gemunkelt, er bekäme auf dem Empfang den Gouverneur von Querétaro zu Gesicht, einen vernagelten Liberalen, der obendrein als reinblütiger Indio bekannt war. Jaimes Vater, der behauptete, nichts und niemanden zu fürchten, nannte diesen Mann seinen Todfeind. War er der Einzige, den er respektierte? Obgleich er sich an dem Barbaren die Zähne ausbiss, war es ihm bisher nicht gelungen, ihn aus dem Weg zu räumen. Umso mehr Reiz besaß ein Kampf mit ihm für Jaime, und er hatte manches getan, um ihn herauszufordern. Der berüchtigte Barbar aber blieb ein Phantom. Viel Lärm um nichts, ein Gespenst wie der nächtliche Wandmaler. Missmutig strich Jaime sich den Rock glatt und wandte sich zum Gehen.
    »Sehen Sie nur, Don Jaime, wir bekommen bezaubernden Zuwachs«, rief Romero Rubio und leckte sich die klebrigen Lippen. »Ich denke, wir schieben unseren Aufbruch in den Club noch ein Weilchen auf.«
    Die Saaldiener hatten die Flügeltüren geöffnet, und herein strömte zwitschernd und gurrend eine Schar junger Mädchen und Mütter – Töchter und Gattinnen der anwesenden Herren, die vermutlich im Alameda-Park die klare Luft genossen hatten. Jaime entgingen die Blicke nicht, die durch den Raum flirrten und sich an ihm verfingen. Noch während sie pflichtschuldigst ihre Väter begrüßten, versuchten die Töchter der Landeselite seine Aufmerksamkeit zu erregen, zupften sich Ärmel und Kragen zurecht und brachten mit schnellen Griffen ihr Haar in Form. Seine Wirkung auf Frauen war ihm bewusst, und ab und an ein Herz zu brechen verschaffte ihm ein wenig Abwechslung. Allzu schnell aber war alles wieder schal und öde, und eine Kreatur, die eben noch die kühle Miss Rührmichnichtan gespielt hatte, salbaderte tränenreich von Heirat. Jaime gönnte sich ein weiteres Stöhnen. Und dann sah er das Mädchen im roten Kleid.
    Ein so aufreizend geschnittenes Kleid in einer Farbe, die nichts kaschierte, hätten die meisten Frauen im Saal nicht tragen können, und um ihr Haar auf derart griechische Weise hochzustecken, musste eine Frau einen erlesenen Nacken besitzen. Das Mädchen, das sich aus einer Gruppe von Freundinnen löste und sich Jaime zuwandte, besaß beides – die Figur für das Kleid und den Nacken für die Frisur. Statt schüchterner Schmachtblicke, die er bis obenhin satthatte, sandte sie ihm ein geradezu unverfrorenes Lächeln. Jaime wandte sich dem Fettwanst zu und

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