Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
sie laut gelacht. Dass gar nichts in Ordnung war, wenn ein Kind das Haus verließ und wenn es nicht im Frieden ging, sondern voller Zorn, würde er erst begreifen, wenn er selbst Kinder hatte. Wenigstens hatte Josefa sich überreden lassen, drei Wochen zu warten und mit Martina gemeinsam zu reisen, wenn auch nur, weil sie an ihr Konto hier nicht herankam und von der Mutter Reisegeld brauchte. Jetzt ging sie im Haus umher und nahm Abschied von den Familienmitgliedern. Dabei weigerte sie sich, mit ihrer Schwester ein Wort zu wechseln, und sprach mit Katharina nicht mehr als das Allernötigste.
»Ja, es ist alles in Ordnung«, sagte sie zu Vicente. »Ich bin nur ein bisschen sentimental heute Morgen. Ihr seid so unsäglich schnell groß geworden.«
»Ehrlich?«, kam es von Vicente. »Ich finde, es hat eine Ewigkeit gedauert.«
»War es so schlimm?«
Ihr Sohn küsste sie auf den Kopf. »Es war wundervoll«, sagte er und klang wie sein Vater. »Aber um Astronomie zu studieren, muss man erwachsen sein. Außerdem wollte ich als Dreikäsehoch immer an deinen Haaren riechen, und jetzt komme ich wenigstens dran.«
Unter Tränen lachte sie. »Ich liebe dich.«
»Und jetzt ist es genug mit dem Gesäusel, und der junge Mann bringt uns das Gepäck zum Wagen, denn sonst versäumen wir den Zug«, erhob sich Martinas Stimme hinter ihm im Flur. »Marsch, ab mit dir, Galileo. Ich will mich auch noch von deiner Mutter verabschieden, schließlich werde ich länger von ihr getrennt sein als du.«
Resolut schob sie Vicente, der gerade noch nach den Koffern greifen konnte, aus dem Zimmer und schloss hinter ihm die Tür. Dann baute sie sich vor Katharina auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Hast du den Verstand verloren?«, platzte sie heraus. »Josefa weiß nichts von dem Brief!«
Von welchem Brief?, hätte Katharina um ein Haar gefragt. So viel war in diesen Wochen auf sie eingestürmt, dass sie die Gedanken an den Umschlag, der wie eine Ladung Sprengstoff in ihrem Sekretär lag, erfolgreich verdrängt hatte. Jetzt aber rief er sich gewaltsam wieder in Erinnerung. »Du hast ihr doch wohl nichts gesagt«, fuhr sie erschrocken auf.
»Nein, ich habe ihr nichts gesagt«, erwiderte die Freundin. »Ich habe nur eine nebensächliche Bemerkung über Verwandte aus Tirol gemacht und dabei festgestellt, dass Josefa nicht die geringste Ahnung hatte, wovon ich sprach. Ich habe das Thema fallenlassen, aber du kannst das nicht tun. Josefa hat ein Recht darauf zu erfahren, dass diese Frau existiert und dass sie sie kennenlernen will.«
»Natürlich hat sie ein Recht darauf«, sagte Katharina lahm. »Aber jetzt ist wohl kaum der richtige Augenblick dazu.«
»Und wann soll der sein? Diese Therese Gruber hat dir geschrieben, dass sie vorhat, sich demnächst nach Veracruz einzuschiffen, und der Brief ist bald vier Monate alt. Sie muss längst in Mexiko sein, und über kurz oder lang steht sie vor deiner Tür.«
Katharina ließ sich auf das Bett fallen und starrte hinunter auf die kupferfarbene Seide der Überdecke. »Sie hat meine Adresse nicht«, murmelte sie. »Sie denkt, ich wohne noch immer in Chapultepec, und die meisten Europäer haben keine Vorstellung von der Größe Mexikos. Ich wüsste nicht, wie sie mich hier finden soll.«
»Das ist nicht dein Ernst.« Martina, der kaum etwas Menschliches fremd war, wirkte fassungslos. »Du lässt eine Frau, die vermutlich kein Wort Spanisch spricht, allein in der Gegend herumzockeln und hoffst, dass sie irgendwann aufgibt und wieder verschwindet? Ich fürchte, da machst du die Rechnung ohne den Wirt. Vielleicht hast du Glück und sie stirbt am Gelbfieber oder fällt Banditen in die Hände, die ihr den Hals durchschneiden, aber aufgeben tut sie nicht. Nicht eine Frau, die sich aufmacht, quer durch die Welt zu reisen und ein Kind zu suchen, das sie in zwanzig Jahren nie gesehen hat.«
»Genau!«, fiel Katharina ihr ins Wort. »Mehr als zwanzig Jahre lang war mein Kind ihr gleichgültig. Mit welchem Recht taucht sie also jetzt auf und mischt sich in unser Leben ein?«
»Dios mio, sie wusste doch gar nicht, dass Josefa existiert!«
»Und warum muss sie es dann jetzt wissen?«
»Katharina.« Martina setzte sich neben sie auf das Bett, ergriff ihren Arm und zwang sie, sie anzusehen. »Kommt das wirklich von dir? Von der Frau, die um ein Haar daran zerbrochen wäre, dass man ihr verschwiegen hatte, wer ihre leiblichen Eltern waren? Meine Güte, mich kratzen doch nicht die Rechte dieser Therese
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