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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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kurzen Blick zurück. Zwei Polizeiwagen hatten sich bereits in Bewegung gesetzt. Er würde sie nicht abhängen können, und sie würden ihn spätestens dann stellen, wenn das Benzin versiegte.
    Ich will nicht in den Knast. Ich will nicht. Ich will nicht!
    »Fahr schneller!«, herrschte er Vivian an.
    Sie trat das Gaspedal durch, schluchzend vor Angst, weil sie das Messer in der Seite spürte. Mit überhöhter Geschwindigkeit schossen sie durch den Wald. Ein anderes Auto kam ihnen entgegen, der Fahrer hupte, weil Vivian fast auf seine Seite der Fahrbahn hinübergeschleudert wäre. Die Polizei folgte ihnen jetzt mit eingeschaltetem Blau licht. Sie kamen immer näher. Ryan schätzte, dass es eine Frage von Minuten war, bis sie ihn und Vivian überholen und zum Anhalten zwingen würden.
    Einzige Chance: der Wald. Dieser schwarze, endlose, undurchdringliche Wald.
    Ich gehe niemals wieder ins Gefängnis.
    »Bieg ab«, schrie er, »bieg in den nächsten Waldweg ab!«
    Er würde hinausspringen, Vivian sich selbst und den Bullen überlassen und sehen, dass er im Dickicht untertauchte und sich dann irgendwohin durchschlug, egal wohin. Sie würden den Wald in langen Ketten durchkämmen, aber er musste schneller sein, entschlossener, cleverer …
    »Hier! Hier rein!«
    Unvermittelt war ein grasüberwachsener Pfad aufgetaucht, der nach wenigen Metern schon wieder von den Bäumen und dem wuchernden Gebüsch verschluckt wurde. Vivian riss das Steuer herum, aber bei ihrer Geschwindigkeit war es Wahnsinn, was Ryan befohlen hatte, und es funktionierte nicht. Der Wagen geriet ins Schleudern, weil Vivian gleichzeitig wild bremste, und schoss in den Wald hinein, aber nicht in die schmale Lücke, die Ryan in seiner Verzweiflung als Weg gedeutet hatte, sondern gegen den nächsten Baum. Laut schreiend, in einem hässlichen, lang gezogenen, schmerzhaft quietschenden Geräusch schoben sich die Metallteile des Autos ineinander.
    Ryans Kopf schleuderte nach vorn und gleich darauf nach hinten gegen die Sitzstütze, und der Schlag, den er dabei empfand, war das letzte körperliche Gefühl, das er bewusst wahrnahm. Er dachte nur noch eines – ich muss hier raus und weg –, aber kein Muskel, kein Gelenk seines Körpers ließ sich bewegen.
    Er verlor nicht die Besinnung, aber jedes Gefühl.
    Er fragte sich, ob er tot war, und er hätte es begrüßt, wenn es der Fall gewesen wäre.
    Ich gehe nicht mehr ins Gefängnis, dachte er.
    15
    In der Höhle stieg das Wasser, und Ken erzählte aus seinem Leben. Zum Glück hatte er nicht noch einmal so wild und krank gelacht wie zuvor, aber dafür strahlte er jetzt eine fast gespenstische Ruhe aus. Er schien nicht zu bemerken, dass unsere Situation immer prekärer wurde. Der Sand der kleinen Bucht war bereits vollständig unter dem Meer verschwunden, von oben würde man schon gar nicht mehr erkennen können, dass es dort ein Stück Strand gab. Unsere sogenannte Höhle war bis zur ersten Steinplatte gefüllt. Wir kauerten auf der nächsthöheren, aber es würde nicht lange dauern, und wir mussten ein Stück nach oben klettern, wollten wir nicht im kalten Wasser sitzen. Immer wieder spähte ich nach draußen und fragte mich, ob man wohl die fragwürdigen Stufen, die nach oben führten, noch erreichen konnte. Man würde durch mindestens hüfthohes Wasser waten müssen.
    Ken machte sich zumindest nach außen hin keinerlei Sorgen. Seine Finger spielten mit ein paar Muschelschalen, die hier überall herumlagen.
    Versager hatte er sich genannt.
    Dass er sich mir gegenüber so bezeichnete und mir dann auch noch alles erklärte, stimmte mich nicht gerade hoffnungsfroh, was meine Überlebenschancen anging. Ich war für ihn jemand, dem man sich öffnen konnte, dem man über Jahrzehnte sorgfältig verborgene, streng gehütete Geheimnisse anvertrauen durfte, ohne noch darauf achten zu müssen, mit wenigstens einem Rest an Ansehen daraus hervorzugehen. Das konnte nur bedeuten, dass ich in seinen Augen nicht mehr lange zu leben hatte. Ich würde nichts von dem, was er mir sagte, noch unter die Leute bringen können. Er hätte das alles genauso gut dem toten Gestein ringsum erzählen können. Ich war nichts anderes. Ich war so gut wie tot.
    »Ihr habt mich also bewundert?«, fragte er. Ihm schien das komisch vorzukommen, denn er zeigte ein fast trauriges Grinsen. »Weil ich Alexia so toll in ihren Karriereplänen unterstützt habe? Ken, der Traumvater. Ken, der Traumehemann. Ken, der wirklich kapiert hat, wie das so läuft

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