Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
ringsum gebildet. Ich hatte Ken nie zuvor angespannt erlebt, nie so nervös und mühsam beherrscht wie jetzt, und trotz meiner prekären Lage fand ich noch Zeit zu denken, dass ich nicht nur blind, sondern auch taub und völlig hirnlos gewesen sein musste in all den Jahren. Mir hätte sonst klar sein müssen, dass etwas nicht stimmen konnte mit einem Menschen, der immer ausgeglichen war, immer ruhig, immer gelassen, immer vorsichtig abwägend, immer freundlich und gut gelaunt. Mir hätte auffallen müssen, dass Ken eigentlich keine Emotionen zeigte – ausgenommen vielleicht jenen einen Moment, als wir einander in seinem Garten küssten –, sondern eine Maske trug, die so ansprechend gestaltet war, dass man nicht darauf kam, sie zu hinterfragen. Man lebte zu gut mit dieser Maske, als dass man sich von ihr hätte irritieren lassen wollen.
»So, hier lang jetzt«, sagte er mit dieser neuen Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Ich stolperte hinter ihm her. Das Wasser strömte über unsere Füße, und wenn es sich zurückzog, schien es den Sand mitnehmen und uns zum Fallen bringen zu wollen. Ich konnte das Donnern hören, mit dem sich die Wellen an den vorgelagerten Felsen brachen. Noch erreichten sie uns nur in ihren Ausläufern, was aber nicht mehr lange der Fall sein würde.
Ich erkannte, wohin Ken strebte. Vor uns befand sich eine Höhle im Felsen, nicht sehr groß und schon gar nicht tief, eher handelte es sich um eine Einbuchtung, wie es sie hier ebenfalls häufig gab. Ihr Boden war mit Sand bedeckt, den aber ebenfalls bereits das Wasser erreicht hatte, und an den Wänden schichteten sich nach vorn ragende Felsplatten übereinander, die so etwas wie natürliche Bänke bildeten. Auf eine davon kletterte Ken mit der Gewandtheit einer Gemse und zog mich hinterher. Der Stein unter meinen Füßen war jetzt trocken, nur in tieferen Kerben und Mulden stand noch das Wasser der letzten Flut. Ich gab mich keiner Illusion hin: Man konnte hier zwar bis unter das Dach der Höhle klettern, aber letzten Endes würde die gesamte Höhle vollständig geflutet sein.
Ich merkte, dass ich zitterte, während ich mich auf die Felsplatte kauerte. Was hatte Ken vor? Wollte er uns beide einem schrecklichen Tod durch Ertrinken aussetzen?
Er starrte finster vor sich hin. Als ich ihn zuletzt nach Alexia gefragt hatte, im Tal neben der stillgelegten Werft, hatte er mir keine Antwort gegeben. Ich versuchte es erneut.
»Wo ist Alexia, Ken?«, fragte ich. »Was hast du mit ihr gemacht?«
Er hielt den Kopf weiter gesenkt.
»Sie ist tot«, sagte er.
Irgendwie hatte ich es geahnt, aber mich schockierte der Gleichmut, mit dem er das sagte. Unwillkürlich schaute ich mich blitzschnell in der Höhle um, als erwartete ich, ihren leblosen Körper hier irgendwo zu entdecken, obwohl das unmöglich war: Schon die erste Flut hätte sie geholt, und sie wäre irgendwann später an einer ganz anderen Stelle an Land gespült worden.
Ken, obwohl er scheinbar nur auf den Boden starrte, hatte meinen Blick bemerkt.
»Nein, hier ist sie nicht«, sagte er, und dann lachte er plötzlich, ein widerliches, krankes, gekünsteltes Lachen.
»Ich bin ein solcher Versager, Jenna«, sagte er, »ein furchtbarer Versager. Du hast ja keine Ahnung!«
Dann lachte er wieder, und ich begriff, dass ich mit einem völlig gestörten Mann in dieser verdammten Höhle festsaß.
Und das Wasser stieg.
14
Er konnte Vivian kaum noch überzeugend vormachen, dass er die Situation im Griff hatte. Er war inzwischen so nervös, dass sein rechtes Augenlid zuckte und die Haut an seinen Handgelenken juckte. Seit der kurzen Rast am Rande einer Weide waren sie nun schon wieder seit fast vierzig Minuten unterwegs, die Benzinanzeige vermeldete, dass sie jetzt auf Reserve fuhren, und noch immer hatte sich keine Gelegenheit ergeben, das Auto zu tauschen. Sie waren eine Ewigkeit, wie es Ryan schien, durch völlige Einsamkeit gefahren, dann hatten sie zwei Dörfer passiert, in denen zwar entlang der Hauptstraße einige Autos geparkt standen, aber da gleichzeitig auch etliche Menschen unterwegs waren, bot sich nicht die Gelegenheit, unauffällig eines davon zu knacken. Ryan begriff, dass er in seinem Bemühen, den Polizeikontrollen zu entgehen, viel zu weit in ein kaum besiedeltes Gebiet geraten war. Er musste unbedingt eine größere Stadt erreichen, hatte aber keine Ahnung, ob er sich auf einer Straße befand, die ihn an ein solches Ziel bringen würde. Er hatte Vivian gefragt, ob sie eine
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