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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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diese kleinen Buchten, die bei Flut völlig verschwanden, bei Ebbe aber recht einladend und idyllisch aussahen. Ich hatte gehört, dass sie nicht ganz ungefährlich waren, weil sie sich sehr schnell mit Wasser füllten, während gleichzeitig der Aufstieg von unten schwierig war. Man durfte dort nicht die Zeit vergessen und im goldenen Sand einfach einschlafen. Es kam immer wieder vor, dass Menschen hier ertranken, weil sie die Tücken der Küste und des Meeres unterschätzten.
    »Wir steigen da jetzt runter«, befahl Ken.
    Mir stockte der Atem. »Das geht nicht. Hier kann man überhaupt nicht runtersteigen.«
    Er warf mir einen verächtlichen Blick zu. »Ich kenne mich hier aus. Siehst du das dort? Stufen. Eine Treppe. Da kommen wir runter.«
    Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Finger. Das, was ich dort sah, als Stufen oder gar als Treppe zu bezeichnen erschien mir äußerst kühn. Tatsächlich aber fiel dort der Fels nicht so steil, sondern vergleichsweise schräg nach unten, und es gab etliche natürliche Kerben und Vorsprünge, die man unter Umständen benutzen konnte, um nach unten und wieder hinaufzugelangen. Ken, der schon als Junge hier gelebt hatte und zusammen mit seinen Freunden wahrscheinlich tagaus, tagein auf den Felsen herumgeklettert war, mochte das harmlos erscheinen; mich hingegen erfüllte die Vorstellung, wie eine Fliege dort an den Steinen zu kleben und mich millimeterweise nach unten zu hangeln, mit haarsträubender Angst. Wenn man abstürzte, landete man entweder auf dem Sandstreifen und brach sich alle Knochen, oder man fiel ins Wasser und zerschellte auf einem der zahllosen der Küste vorgelagerten Felsen, die teilweise aus den Wellen ragten, teilweise auch unter ihnen verborgen waren. Und noch etwas erkannte ich, während ich voller Entsetzen auf die ganze Szenerie starrte: Die Flut kam. Ganz eindeutig. Der Sandstreifen wurde kleiner. In flach auslaufenden Wellen floss das Wasser schon über die ganze Bucht; es würde nicht lange dauern, bis es sie völlig verschluckt hatte.
    »Ken, die Flut! Wir können da nicht runter!«
    »Komm mit«, sagte er.
    Ich blieb stehen, wo ich war. »Warum?«, fragte ich. »Warum denn nur, Ken?«
    »Du hättest heute nicht vorbeikommen sollen«, sagte er noch einmal. »Warum musst du bloß deine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute stecken, Jenna?«
    »Ich steige da nicht hinunter«, sagte ich.
    Er trat dicht an mich heran. Nie, nie, nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal ausgerechnet Ken als Bedrohung empfinden würde.
    »Du kommst jetzt mit mir da hinunter«, sagte er, »oder ich befördere dich über den Klippenrand in die Tiefe. Du kannst es dir aussuchen.«
    »Warum?«
    »Steig hinunter.«
    Ich bezweifelte nicht, dass er seine Drohung wahr machen würde. Ich biss die Zähne zusammen. Ich begann den Abstieg.
    Zum Glück trug ich meine Turnschuhe mit dem dicken Profil, sodass ich einigermaßen Halt fand. Ich versuchte, meinen Körper so eng wie möglich an den Fels zu pressen und keinesfalls zwischen meinen Armen hindurch nach unten zu schauen, aber auch nicht nach oben in den Himmel. Ich bin nicht schwindelfrei, ich kann in den oberen Stockwerken von Hochhäusern nicht einmal auf den Balkon treten. Ich starrte verbissen auf das kleine Stück Felswand, das sich jeweils unmittelbar vor meinen Augen befand. Manchmal war Ken, der mir folgte, so dicht über mir, dass ich auch seine Schuhe sah. Weiße Turnschuhe mit einem blauen Rand ringsum und blauen Schnürsenkeln. Ken war ungeduldig, ihm ging das alles zu langsam. Es war deutlich, dass er diesen Abstieg gut kannte, denn er bewegte sich ohne die geringsten Probleme, ohne zögerndes Tasten oder vorsichtiges Ausprobieren der Haltbarkeit einzelner Steine. Aber er konnte nicht an mir vorbei, und ich sah nicht ein, dass ich ihm die Dinge leichter machen sollte. Ich konnte allerdings leider umgekehrt auch nicht an ihm vorbei. Es gab für mich nur den Weg nach unten. Und obwohl ich wusste, dass die Flut kam und dass die Sicherheit in der Bucht trügerisch und nur für sehr kurze Zeit gegeben war, wünschte ich, die sich endlos dehnenden Minuten des Abstiegs wären endlich vorbei. Alles schien besser als diese Felswand.
    Endlich spürte ich Sand unter den Füßen. Nassen, schlickigen Sand zwar, keineswegs festen Grund, aber ich war tatsächlich unten angekommen. Ich war nicht abgestürzt.
    Ken sprang hinab und kam neben mir auf. Seine Lippen waren zusammengepresst, eine dünne, weiße Linie hatte sich

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