Im Tal des Schneeleoparden
plötzliche Wut in seiner Stimme. »Was ist denn ehrlich? Sind die anderen ehrlich? Wenn sie uns belügen und betrügen, wenn sie Menschen verschleppen? In den letzten Monaten sind Dutzende, wenn nicht Hunderte verschwunden, und nur wenige sind wieder aufgetaucht – gefoltert und gebrochen. Und ist es nicht auch Mord, sich Geld in die eigene Tasche zu stecken, das für den Bau von Krankenstationen bestimmt war? Wie viele Menschen könnten noch leben, wenn sich ein Arzt um sie gekümmert hätte, wenn genügend Medikamente zur Verfügung gestanden hätten? Du hast mich nach meinen Kindern gefragt. Ich habe zwei, weil zwei überlebt haben. Die anderen beiden sind am Durchfall gestorben.«
»Das wusste ich nicht.«
»Woher solltest du es wissen?«, sagte er bitter. »Ich rede selten darüber. Ich handle lieber.«
Tara nahm ihren Mut zusammen. »Hast du schon mal einen Menschen getötet?«, fragte sie leise.
Achal sah zu Boden. Sein Schweigen war Antwort genug.
»Bist du mir böse? Ich musste es einfach wissen.«
»Wie könnte ich dir böse sein? Du ahnst nicht, wie sehr auch mich diese Fragen quälen. Aber ich habe meine Entscheidung getroffen, nun muss ich dazu stehen.«
»Sind die Leute im Haus auch Rebellen?«
»Ja.«
»Sie sind doch aber reich!«
»Reich? Wie kommst du darauf?«
»Die große Wohnung, der Fernseher.« Tara zuckte die Schultern. »Einfach alles.«
»Ach, Tara.« Achal machte Anstalten, ihre Hand zu ergreifen, unterließ es dann aber. »Sarungs Eltern sind nicht reich. Arm sind sie natürlich auch nicht, aber selbst sie haben heutzutage Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen. Sarungs Vater arbeitete an der Universität, aber er wurde vor die Tür gesetzt, nachdem er sich zu offen über die Veruntreuung von Hilfsgeldern äußerte, und seine Mutter ist Lehrerin.«
»Sarungs Eltern!« Taras Herz klopfte schneller. Wie hatte sie die Ähnlichkeit zwischen dem Hausherren und dem jungen Rebellenführer übersehen können? »Erzähl mir mehr.«
»Ihre Namen werde ich dir auf keinen Fall verraten. Außer mir kennt sie niemand, damit sie nicht in Gefahr geraten. Was soll ich dir erzählen?«
»Warum sie den Rebellen helfen. Und ich möchte gern mehr über Sarung wissen.«
»Seine Eltern machen mit, weil sie die Ungerechtigkeiten leid sind. Sie sind viel schlauer als ich und die meisten von uns, und deshalb können sie den Dingen auch besser auf den Grund gehen. Wer weiß, vielleicht wird Sarungs Vater einmal Minister im neuen Nepal. Um Sarung haben sie natürlich Angst, aber sie akzeptieren seine Entscheidung. Er hat in Indien studiert und ist zurückgekommen, um zu kämpfen.«
»Er hat studiert«, murmelte Tara. Sarung hatte eine Saite in ihr zum Klingen gebracht, aber die winzige Hoffnungsflamme, auch der junge Rebellenführer könnte sich für sie interessieren, erstickte bei dieser Eröffnung. Sie war nur ein ungebildetes Bauernmädchen, zwischen seiner und ihrer Welt lag mehr als nur ein hoher Gebirgspass. Mit einem Seufzer verabschiedete sie sich von dem unmöglichen Traum, den sie während der endlosen Wanderstunden der letzten Tage im Verborgenen gehegt hatte. Sie war schließlich nicht zum Vergnügen hier. Ihre Schwester war wichtiger als alles andere.
Andererseits bezeichnete Sarung Achal selbst über die eigentlich unüberbrückbaren Kastengrenzen hinweg als seinen besten Freund. »Wie hast du Sarung kennengelernt?«
»Oh, das ist lange her, beinahe zwanzig Jahre. Ich war damals dreizehn und mit dem Segen meines Vaters nach Kathmandu gekommen, um mein Glück zu suchen. Nun, ich habe es gefunden, aber erst nachdem ich ganz unten angekommen war. Niemand wollte mir Arbeit geben, mir, einem Kamis. Ich hielt mich als Schuhputzer über Wasser, mehr schlecht als recht. Geschlafen habe ich auf der Straße, was mir viel Ärger mit der Polizei einbrachte. Eines Morgens wurde ich wieder einmal von den Fußtritten eines unter den Straßenjungen als besonders brutal verschrienen Polizisten geweckt. Ich hatte furchtbare Angst, weil ich kein Geld besaß, um ihn zu besänftigen. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich in den letzten Tagen keine Kunden hatte finden können, doch er riss mich einfach hoch. Plötzlich stand ein etwa zehnjähriger Junge vor uns. Gutgekleidet, Honighaut, mit Sicherheit einer der höheren Kasten zugehörig. In seinen Augen kochte eine solche Wut, dass wir ihn nur anstarren konnten. ›Lassen Sie meinen Freund in Ruhe!‹, herrschte er den Polizisten an. Der lachte
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