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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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von einer Spange zusammengehaltenen Haaren könnte eine Touristin sein, aber der kurze Blick auf ihr Gesicht hatte sie davon überzeugt, dass es sich um die Fremde aus dem Bus handelte. Tara setzte sich wieder in Bewegung und folgte ihr in geringem Abstand. Die Frau übte eine unerklärliche Anziehungskraft auf sie aus.
    Die Fremde hatte es nicht eilig. Hier und da betrachtete sie die bunten Mützen und Pullover vor den Geschäften, schlenderte dann weiter, wich einem anderen Touristen aus und stellte sich schließlich vor das Fenster eines Schmuckladens. Als Tara an dem Ladenbesitzer vorbeieilte, runzelte er die Stirn. Sie senkte den Kopf. Der Mann hatte bemerkt, dass sie die Ausländerin verfolgte.
    Kurz hintereinander verließen die beiden Frauen die Straße mit den Touristen-Läden und gelangten auf einen weiten, von prächtigen Häusern umgebenen Platz. Die Fremde wurde langsamer, besah sich alles ganz genau, und auch Tara fand Muße, die Häuser zu bestaunen. Die offizielle Würde der Gebäude schüchterte sie ein. Hier mussten wichtige Leute leben, vielleicht sogar der König, und auch wenn sie in den letzten Tagen nicht viel Gutes über ihn gehört hatte, war der Respekt vor ihm und aller Obrigkeit doch tief in ihrem Wesen verwurzelt. Die Fremde schien von den erhabenen Schwingungen der Gebäude nichts zu spüren. Ohne die vielen Händler zu beachten, die auf einem Abschnitt des Platzes Bronzegötter, Holzmasken, Marionetten und Gebetsmühlen feilboten, trat sie dicht an das Gebäude zur Rechten heran und studierte ausgiebig die Schnitzereien der Fensterrahmen. Nachdem sie genug gesehen hatte, mischte sie sich unter die in einem ununterbrochenen Strom zum Durbar-Platz, dem natürlichen Mittelpunkt der Stadt, strebende Menschenmenge. Tara hatte Mühe, sie nicht aus den Augen zu verlieren.
    Der Platz vibrierte vor Leben. Die vielen Autos, Menschen und Lastenträger überwältigten Tara. Ehrfürchtig wanderte ihr Blick zum Himmel. Sie flüsterte die Namen der ihr aus Bahadurs Erzählungen bekannten Tempel und gelobte, noch am selben Tag eine Puja zu machen. Als sie den Blick wieder senkte, war die Fremde verschwunden. Ratlos suchte Tara die Menschenmenge ab, erkletterte schließlich sogar die unterste Stufe des Maju-Dewal-Tempels, aber es erwies sich als unmöglich, die Frau in dem Gewühl auszumachen. Tara fragte sich, warum sie so versessen darauf war, sie wiederzufinden. Vielleicht, weil auch sie neu in der Stadt war? Weil sie ebenfalls eine Suchende war? Hatte es nicht etwas zu bedeuten, dass sich ihre Wege zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit kreuzten? Tara gab schließlich auf. Sollte ihre Begegnung wirklich von Bedeutung sein, würde sie die Frau finden, ohne nach ihr suchen zu müssen. Sie schickte sich an, von der hohen Stufe zu springen.
    Und da stand sie, direkt vor ihr, und betrachtete sie neugierig. Eine kleine Unmutsfalte erschien auf ihrer Stirn, aber insgesamt wirkte sie freundlich. Tara versteinerte, konnte die Fremde nur anstarren. Sie erschien ihr beinahe unirdisch schön mit ihrer bleichen Haut und den tiefgründigen hellbraunen Augen. Ihre Gedanken rasten. Was sollte sie tun? Sie ansprechen? Aber in welcher Sprache? War die Fremde böse auf sie? Sie musste bemerkt haben, dass Tara ihr folgte, sonst hätte sie jetzt nicht hier gestanden.
    Die Fremde nahm ihr die Entscheidung ab.
    »Namaste«, sagte sie.
    »Namaste«, antwortete Tara erleichtert und führte ihre aneinandergelegten Hände respektvoll bis zur Höhe ihres Gesichts. »Sei mir nicht böse. Ich wollte nicht –« Sie verstummte. Was wollte sie nicht? Sie war völlig verwirrt.
    Die Fremde hatte konzentriert zugehört, aber die Ratlosigkeit in ihrem Gesicht verriet Tara, dass sie nichts verstand. Frustriert senkte Tara den Blick und erstarrte zum zweiten Mal, als sie den Anhänger am Hals der Fremden bemerkte. Die mit mehreren Türkisen und Korallen verzierte Silberplatte war ungewöhnlich, ganz anders als der Schmuck, den die nepalesischen Frauen und Männer schätzten. Die Leute aus dem hohen Himalaya verarbeiteten Korallen und Türkise, aber auch ihre Schmuckstücke sahen anders aus. Eine Erinnerung blitzte auf. Sie hatte einen ähnlichen, vielleicht sogar denselben Anhänger schon einmal gesehen! Aber wo? Wer hatte ihn getragen?
    Eine Berührung ließ sie auffahren. Der Hund knurrte. Sofort nahm die Fremde ihre Hand von Taras Schulter und wich einen Schritt zurück. Ein Händler nutzte die entstandene Lücke und schob sich mit

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