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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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seinem turmhoch beladenen Handkarren zwischen sie und die Fremde. Tara zögerte keine Sekunde. Sie wollte nur noch fort von der fremden Frau. Die Deckung des Karrens ausnutzend, tauchte sie in der Menge unter.
     
    Verblüfft schaute Anna auf die Stelle, an der sich zwei Sekunden zuvor noch die junge Nepalesin befunden hatte. Sie war so schnell verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Auch von dem Hund war keine Spur geblieben. Womit hatte sie das Mädchen erschreckt? Die Berührung? Dass sie keine Männer anfassen durfte, hatte Anna mittlerweile verinnerlicht, aber galt diese Regel auch für Frauen? Oder war es etwas anderes gewesen?
    Anna ging gedankenverloren weiter. Für den Augenblick mussten die Tempel und der alte Königspalast Hanuman Dhoka ohne ihre Bewunderung auskommen. Sie glaubte felsenfest, dass die junge Frau völlig harmlos und unschuldig war, aber warum verfolgte sie Anna? Sie war ihr samt Hund schon aufgefallen, als sie die Freakstreet verlassen hatte. Um sich zu vergewissern, hatte sie vor dem Haus mit den schönen Fensterrahmen bewusst getrödelt, und tatsächlich war die Nepalesin etwas entfernt ebenfalls stehengeblieben. Anna hatte sie erst auf dem belebten Durbar-Platz abschütteln können. Kurz darauf entdeckte sie die Frau erneut auf der untersten Stufe des zentralen Tempels. Der Hund, ihr ständiger Begleiter, saß neben ihr und beäugte misstrauisch die vorbeiwogenden Köpfe. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus suchte die Frau systematisch die Menge ab, wahrscheinlich nach ihr. Ärgerlich hatte sich Anna einen Weg zum Tempel gebahnt, um die impertinente Verfolgerin zur Rede zu stellen.
    Der Ärger verflog so schnell, wie er gekommen war. Die Angst und Verwirrung der Nepalesin weckten Annas Mitleid. Natürlich sprach die Frau nur Nepalesisch. Sie war entsetzlich schüchtern und traute sich kaum, Anna in die Augen zu sehen, hielt stattdessen den Blick auf ihren Hals geheftet. Erneut entfaltete die unerklärliche Austrahlung der Nepalesin ihre Kraft, doch sie lief davon, bevor Anna sie in ein Teehaus einladen konnte.
    Anna schob die Gedanken an die geheimnisvolle junge Frau beiseite. Ebenso wie sie auf die fremde Welt neugierig war, mochte Neugierde auch der Grund für das Interesse der anderen sein. Das Schicksal hatte sie zweimal zusammengeführt, sollte es wichtig sein, dass sie sich ein drittes Mal trafen, würde es auch geschehen.
    Kaum hatte Anna ihr Grübeln aufgegeben, stürmte die laute, bunte, nach Räucherstäbchen duftende und nach Abfall stinkende Welt wieder auf sie ein. Es dauerte nur Minuten, bis sie das Erlebnis auf dem Platz verdrängt hatte und stattdessen der Umgebung ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Sie geriet in einen wahren Mahlstrom von Menschen, der durch eine Einkaufsstraße strudelte. Die Häuser auf beiden Seiten waren samt und sonders sehr alt, mit kunstvoll geschnitzten, aber schiefen und von starkem Gebrauch gezeichneten Fensterrahmen und Stützbalken, und bis unters Dach vollgestopft mit Menschen und Waren. Es wurde gehandelt, gerufen, gelacht und gestritten, hier blinkten Metallwaren, dort flatterten Baumwollsaris und glitzerndes Talmi. Anna merkte kaum, wie sie gestoßen und gedrückt wurde, und ließ sich einfach treiben.
     
    Niemandem konnte die Verliebtheit des Paares entgehen. Mit ineinander verschränkten Händen liefen die beiden dunkelhaarigen jungen Leute durch die Gassen, blieben hier stehen und befühlten einen Apfel, strichen da einem kleinen Mädchen über den staubigen Schopf und spielten ihr Versteckspiel mit Anna. Immer, wenn Anna glaubte, sie endlich eingeholt zu haben, entzogen sie sich ihr mit einem lockenden Lachen, schlugen Haken, tauchten in dunkle Durchgänge und zeigten ihr auf der anderen Seite eine weitere Facette ihres verzauberten Reiches. Anna folgte den fröhlichen Geistern ihrer Eltern mit großen Augen, und am Ende des Tages hatte sie sich rettungslos in die Stadt verliebt. Kathmandu war alt, sehr alt, aber kein Freilichtmuseum. Zumindest im Innenstadtbereich schien sich nicht viel geändert zu haben seit der Zeit, als ihre Mutter staunend durch die Gassen und Bazare gelaufen war. Mit jeder Stunde fiel es Anna schwerer, ihr Alter Ego Annapurna zu bändigen – die Anna-Hülle platzte immer weiter auf. Immer mutiger wurde sie, lachte den Entgegenkommenden zu, und mit jedem zurückgegebenen Lächeln wuchs ihr Selbstbewusstsein. Es muss ein Zauber über dieser Stadt liegen, dachte Anna verwundert, als sie sich

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