Im Tal des Schneeleoparden
zum wiederholten Male in einen Laden locken und über einer Tasse süßem Milchtee in ein Verkaufsgespräch über Pashminaschals verwickeln ließ. Sie war bereits stolze Besitzerin von zwei Tüchern, wobei sie für das zweite nur halb so viel bezahlt hatte wie für das erste. Sie lernte dazu, und es machte einen Heidenspaß. Als die Abenddämmerung hereinbrach, begab sie sich mit Hilfe des Stadtplans auf den Rückweg, auch wenn sie Rameshs Warnung nicht mehr allzu ernst nahm. Den ganzen Tag über hatte sie nichts von dem Bürgerkrieg gespürt. Auf sie hatte es eher den Eindruck gemacht, als ginge das Leben seinen ganz normalen Gang, und auch die Menschen schienen nicht sonderlich beunruhigt zu sein.
Nach außen wirkte alles friedlich, doch Tara konnte das Raunen von Krieg und Tod deutlich vernehmen, das, wortlos und allgegenwärtig, durch die Gassen wehte. Die Angst ging um in der Stadt, kauerte in dunklen Winkeln und ließ sich selbst von den sonnigen Plätzen nicht vertreiben. Tara fröstelte. Außerdem hasste sie das Gedränge. Das Atmen fiel ihr schwer zwischen den hektisch hin und her eilenden Menschen. Lediglich der Hund bewahrte sie davor, ständig gegen die Häuserwände gedrückt zu werden, und sie sehnte sich nach Raato Danda, der frischen Luft und dem weiten Blick. Das Herz wurde ihr schwer, als sie an ihre kleine Schwester dachte. Beinahe ein Jahr musste sie schon in dieser Stadt mit ihrer stinkenden Luft ausharren. Sie schluckte. Wenn der Bhoot sie überhaupt auf die Straße ließ. Hoffentlich wurden Achal und seine Freunde bald fündig, damit sie endlich ihre Schwester aus den Klauen des Dämons befreien konnte.
In einer Gasse entdeckte Tara mehrere Geschäfte für Saris und Kurthas. Ihre Rupienscheine fest umklammernd, betrat sie einen der Läden, während sich der Hund neben den Eingang legte und döste. Eine Stunde später, nach zähen Verhandlungen, verließ Tara das Geschäft mit einer himmelblauen Kurtha und dazu passender Hose. Das Gewand war aus festem Winterstoff gearbeitet und würde sicher viele Jahre halten. Sie hatte so gut gehandelt, dass sie beschloss, noch nach einer passenden Strickjacke Ausschau zu halten. Sarungs Mutter würde sicher erfreut sein, wenn sie sah, wie umsichtig Tara mit ihrem Geld gewirtschaftet hatte.
Etwas später irrte sie mit dem Hund im Schlepptau durch die Gänge des chinesischen Bazars. Hier gab es tausend unbekannte Dinge und, in einem Innenhof, auch Berge preiswerter Strickwaren. Tara wählte eine dunkelblaue Jacke, zahlte und verließ fluchtartig den Gebäudekomplex. Von einem Moment zum anderen fühlte sie sich der Stadt nicht mehr gewachsen. Draußen in der Gasse fragte sie sich zum Durbar-Platz durch und ließ sich dort erschöpft auf dieselbe Tempelstufe fallen, von der sie Stunden zuvor nach der fremden Frau Ausschau gehalten hatte. Tara wollte vor der Dämmerung im Haus von Sarungs Eltern sein, aber noch blieb ihr Zeit zum Verweilen.
Ein alter Sadhu fesselte ihre Aufmerksamkeit. In gebückter Haltung schlurfte der heilige Mann auf den Maju-Dewal-Tempel zu, während die Menschen ihm respektvoll auswichen. Tara beschlich bei seinem Anblick ein unbehagliches Gefühl, ohne dass sie sich erklären konnte, woher es rührte. Mit seinem gelben Gewand, den zu fingerdicken Strähnen verfilzten Haaren und dem prächtigen rot- und graumelierten Bart fast bis zum Bauchnabel unterschied er sich nicht von all den anderen Wanderasketen, die sie aus Raato Danda kannte, und doch spürte sie, dass mit diesem Sadhu etwas nicht stimmte.
Bevor sie ihm aus dem Weg gehen konnte, erkletterte der ausgemergelte Mann mit überraschender Behendigkeit die Stufe und ließ sich mit einem Schnaufen neben ihr nieder, ohne sich von dem grollenden Hund einschüchtern zu lassen. Stattdessen beugte er sich zu dem Tier, legte ihm die Hand auf die Schnauze und murmelte einige Sätze in einer Sprache, die Tara nicht verstand.
Der Hund legte den Kopf schief und verfolgte aufmerksam den seltsamen Singsang des Mannes. Tara war fassungslos. Nur einem Zauberer konnte es gelingen, den Hund derart einzulullen. Nun legte sich das mächtige Tier sogar auf die Seite und entblößte seine Kehle. Selbst Tara hatte diesen Vertrauensbeweis erst wenige Male von ihrem Begleiter erhalten, Fremde nie.
Der Asket war ihr zutiefst unheimlich. Aus seinem Gesicht ragte eine große Nase hervor, scharf und spitz wie ein Messer. Seine Lippen waren schmal und blutleer, und wenn er sprach, entblößte er ein
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