Im Tal des Schneeleoparden
überwältigte sie, ohne sie zu ängstigen, und sie konnte zunehmend nachvollziehen, was die Hippies in diesem Land gefunden hatten: Freundlichkeit, Exotik und Farbe anstelle der dumpfen Braun- und Grautöne in Deutschland, wo die wöchentlich polierten Blätter der Gummibäume die einzigen Glanzpunkte setzten.
Anna fühlte sich wunderbar. Nur eine Sache trübte ihre Stimmung ein wenig – sie schaffte es einfach nicht, eine E-Mail an Kim oder Rebecca abzusenden. In der Freakstreet gab es zwar zwei Internetcafés, doch leider erwies sich die Benutzung der Computer wegen der langen Ladezeiten und häufig auftretenden Stromausfälle als Glücksspiel. Gestern hatte Anna endlich eine Mail von Kim, in der er euphorisch vom ersten Gespräch mit seinem zukünftigen Doktorvater berichtete, öffnen können, doch kaum hatte sie geantwortet, dass sie sich auf Kalkutta freue und es ihr in Nepal sehr gut gefiele, brach die Internetleitung zusammen. Auf ihre Frage, wann die Computer wieder funktionieren würden, erntete sie von dem Cafébetreiber lediglich ein fatalistisches Schulterzucken. Er wusste es nicht, und es war ihm auch gleichgültig. Sein Geschäft zielte hauptsächlich auf die Touristen ab, doch außer Anna war heute noch niemand in seinem Laden erschienen. Überall war es dasselbe: In den Restaurants, den Lodges, den Touristenläden herrschte gähnende Leere, und die Höflichkeit Anna gegenüber täuschte sie nicht darüber hinweg, dass die Geschäftsleute resigniert hatten. Eine einzelne Touristin, so spendierfreudig sie auch sein mochte, reichte nicht zum Überleben.
Die Telefonleitungen waren nur unwesentlich zuverlässiger, aber immerhin gelang es Anna, ein paar Worte mit Ingrid und Rebecca zu wechseln. Kim hatte ihr leider keine Telefonnummer geben können. Sie versuchte es auch bei Eddo, doch er ging nicht ans Telefon. In Annas Erleichterung, noch nicht mit ihm sprechen zu müssen, mischte sich Sorge über seinen Zustand, doch sie beruhigte sich damit, dass Rebecca nichts über Eddo berichtet hatte. Sie hatte sich bereit erklärt, einmal die Woche bei ihm nach dem Rechten zu schauen, ob es ihm gefiel oder nicht.
Ein Knäuel zusammengebundener Gummibänder landete in ihrem Schoß. Anna sah auf und direkt in vergnügte Kindergesichter.
»Also gut«, sagte sie lachend und sprang auf den Boden, »ich versuche es.«
Die Kinder amüsierten sich prächtig, als Anna vergeblich versuchte, das Knäuel mit dem Fuß in der Luft zu halten. Sie warf es den Kindern zu. Ein Mädchen fing es und kickte es dann in die Luft, fünfmal, zehnmal, zwanzigmal. Anna applaudierte. Die Kinder von Kathmandu waren wahre Meister in diesem seltsamen Spiel. Dann schulterte sie ihren Tagesrucksack und wanderte weiter.
Vor der zum Stupa führenden Gasse wimmelte es von Taxifahrern und Andenkenverkäufern, die ihre Kundschaft jedoch unter den einheimischen Besuchern vermuteten und Anna unbehelligt vorbeischlüpfen ließen. Sie kaufte sich eine Eintrittskarte, trat auf den mit Gebetsfahnen überspannten Platz und blieb überrascht stehen.
Obwohl ein buddhistisches Heiligtum, hatte die Weltpresse den Bodhnath-Stupa zum Symbol des hauptsächlich hinduistischen Nepal stilisiert, und auch Anna hatte über die Jahre Dutzende Bilder des markanten Gebäudes gesehen, doch keines der Fotos hatte sie auf die schiere Größe vorbereitet. Der Stupa ragte beinahe vierzig Meter in den Himmel. Von allen Seiten des obersten Aufbaus blickten die Augen Buddhas in die Unendlichkeit. Keine der vier Himmelsrichtungen entging seiner gütigen Aufmerksamkeit.
Anna folgte einem Schild, das ein Restaurant auf der Dachterrasse eines der umgebenden Häuser anpries. Bevor sie die Gegend genauer erkundete, musste sie erst ihren Durst löschen. Außer Atem erreichte sie die Terrasse im sechsten Stock und fand sich auf gleicher Höhe mit Buddhas Augen wieder. Nachdem sie eine Kanne heiße Zitrone und eine Portion Momos bestellt hatte, lehnte sie sich über die gemauerte Balustrade und beobachtete das Treiben auf dem Platz. Die summende Geschäftigkeit glich mehr einem fröhlichen Rummel als stiller Andacht. Laien und dunkelrot gewandete Mönche standen schwatzend beisammen, Kinder jagten zwischen den Beinen jener herum, die mit in sich gekehrten Mienen die Basis des Stupas umrundeten, Mantras murmelten und die in die Außenmauer eingelassenen Gebetsmühlen in Gang setzten. In einer Nische mit Holzpritschen verrichteten mehrere Gläubige ihre Gebete. Es machte einen
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