Im Tal des Schneeleoparden
ausgesprochen sportlichen Eindruck, wie die Menschen mit erhobenen Händen in die Knie gingen, dann den Oberkörper flach auf die Pritsche sinken ließen, die Stirn zu Boden drückten, wieder in die Hocke und in den Stand kamen, nur um die Prozedur erneut zu beginnen. Insbesondere eine Frau mit langen Zöpfen beeindruckte Anna. Die Bewegungsabfolge musste ziemlich schweißtreibend sein, doch die Frau wiederholte sie trotz ihres dicken Wollmantels ein ums andere Mal. Anna begann mitzuzählen. Als sie bei etwa dreißig Kniefällen angelangt war, schweiften ihre Gedanken ab.
Sosehr sie ihre Zeit in Kathmandu genoss, so häufig mischten sich Wermutstropfen in ihre neue Daseinsfreude. Ihr Leben wäre anders verlaufen, hätten ihre Mutter und Eddo ihr reinen Wein eingeschenkt. Im Kielwasser der großen Lüge schwammen tausend kleinere, die es ihr unmöglich gemacht hatten, das wahre Wesen ihrer Mutter, aber auch ihr eigenes Potenzial zu erkennen. Widerspruchslos hatte sich Anna in die von ihren Eltern für sie vorgesehene Rolle gefügt. Plötzlich hasste sie ihre Mutter und mehr noch Eddo dafür, dass sie nie erkannt hatten, wie wenig glücklich ihre Tochter war. Sie hatte funktioniert, durchaus zufrieden, aber das himmelhoch Jauchzende hatte genauso gefehlt wie das zu Tode Betrübte. Seit Ingrids Eröffnung hatte die Fieberkurve ihres Lebens, bisher eine sanfte Welle mit meterlangen Schwingungen, hektisch Fahrt aufgenommen, mit Ausschlägen nach unten und nach oben, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Und es gefällt mir, dachte Anna mit einem Anflug von Trotz. Ihr habt mich betrogen, aber euch selbst ebenfalls, denn ihr habt euch um ein unbeschwertes, spannendes Leben gebracht. Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich sagen, es geschieht euch recht.
Ein Räuspern riss sie aus ihrer Versunkenheit. Der Kellner hatte das Zitronenwasser und die Momos auf den Tisch gestellt und bedeutete ihr, zu essen, bevor die Teigtaschen kalt wurden. Noch immer wütend auf Bärbel und Eddo, setzte sich Anna an den Tisch und attackierte ihre Momos, als wären es Feinde. Immer häufiger gewann gesunde Wut die Oberhand über ihr Selbstmitleid, und auch dies gefiel Anna. Bisher hatte sie sich Wut nicht erlaubt und war stets um Ausgleich bemüht gewesen, doch nun stellte sie fest, dass von diesem Zustand eine erfrischende Kraft ausging.
Tatsächlich fühlte sie sich kurz darauf wesentlich leichter, als würde Steinchen für Steinchen ein auf ihrer Seele lastender Lügenberg abgetragen, von dessen Existenz sie erst seit einer Woche wusste. Nachdem sie bezahlt hatte, sprang Anna gutgelaunt die Treppe hinunter und mischte sich auf dem Platz unter die buddhistischen Pilger, drehte gemeinsam mit ihnen ein paar Runden um den Stupa und brachte die Gebetsmühlen zum Rotieren. Annas Gebete richteten sich an keinen bestimmten Gott, und sie begannen nicht mit dem Wort ›Bitte‹, sondern einem tiefempfundenen ›Danke‹ für ihr neues Leben, das endlich seinen Anfang nahm.
Gegen drei Uhr nachmittags war sie zurück in der Freakstreet. Sie hatte sich für den Rückweg von Bodhnath ein Taxi genommen und kaum die Autotür geöffnet, als Umakant aus seinem Laden eilte und sie begrüßte. Er hatte gute Nachrichten: Ein Cafébesitzer hatte Zeit und Lust, Anna von der Hippiezeit zu erzählen, die er selbst als junger Mann erlebt hatte. Anna bat sich eine Stunde Pause aus. Sie wollte sich den Staub der Wanderung abspülen und sich auf die Begegnung vorbereiten.
Pünktlich um vier fand sie sich vor Umas Laden ein. Kopila hatte den Platz hinterm Verkaufstresen übernommen, und sie konnten sofort aufbrechen. Siddhartha und Kushum schlossen sich ihnen begeistert an, weil Anna für jeden ein Stück Kuchen in Aussicht stellte.
Das Café lag gleich um die Ecke. Sie waren kaum zwei Minuten gegangen, als Umakant vor einem Ladeneingang stoppte, so unscheinbar, dass Anna schon mindestens ein Dutzend Mal daran vorbeigelaufen sein musste, ohne ihn bemerkt zu haben. Im Schaufenster standen einige ausgesprochen appetitlich aussehende Schokoladen- und Apfeltorten. Uma wies nach oben, wo ein Schild mit der Aufschrift ›Snow Man Café‹ prangte.
»Der Besitzer heißt Ram«, informierte Uma, bevor sie eintraten. »Er betreibt den ›Schneemann‹ seit 1965, allerdings hat er damals noch keinen Kuchen gebacken, sondern Fruchtsäfte verkauft. Er hat mir erzählt, dass die Hippies ganz wild darauf waren, weil das Ganja ihnen Heißhunger und Durst
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