Im Tal des Schneeleoparden
gestrigen Morgen überstürzt in sein Dorf abgereist. Am Abend zuvor, als sie alle gemeinsam in Umakants Wohnung Dhal Bhat gegessen hatten, war plötzlich ein totenbleicher junger Mann mit der Nachricht in den Raum gestürmt, dass Umas Vater verstorben sei und er sofort ins Dorf müsse, um die notwendigen Riten einzuleiten. Anna hatte es sich nicht nehmen lassen, Umakant, Kopila und die Kinder in aller Frühe zum Busbahnhof zu begleiten. Umakant nahm ihr das Versprechen ab, mit ihrer Abreise bis zur Rückkehr seiner Familie in etwa anderthalb Wochen zu warten. Sie verabschiedeten sich wie alte Freunde, und dann hatte Anna allein vor dem Busbahnhof gestanden und dem davonfahrenden Bus nachgewunken, bis er um eine Kurve und außer Sicht verschwand. Danach war sie in die Altstadt zurückgewandert und hatte die Soldaten gesehen.
Um der gedrückten Stimmung in der Stadt zu entkommen, war Anna mit einem Sammeltaxi in Kathmandus Schwesterstadt Patan gefahren. Tatsächlich schienen die Menschen dort etwas entspannter zu sein, und Anna hatte den Tag damit verbracht, auf Tempeln herumzuklettern, zu fotografieren und das Museum zu besuchen. Am Abend, nach einer weiteren erfolglosen Sitzung im Internetcafé, war sie früh ins Bett gegangen, hatte ein paar Seiten gelesen und dann versucht zu schlafen, aber der Schlaf hatte lange auf sich warten lassen und war von wirren, bedrohlichen Träumen durchtränkt gewesen. Mehrmals schreckte sie mit dem Gefühl auf, dass sich etwas Furchtbares ereignet hatte oder aber noch ereignen würde. Die düsteren Vorahnungen hatten sie bis in den Morgen hinein verfolgt und sich nur schwer abschütteln lassen.
Dementsprechend dünn war ihr Nervenkostüm. Seitdem sie am Mittag die Annapurna Lodge verlassen hatte, kehrte ihre altvertraute Unsicherheit mit Riesenschritten zurück. Gestern noch interessante und aufregende Situationen überforderten sie heute. In jedem Händler witterte sie einen Betrüger, jeder Lastenträger rempelte sie mit voller Absicht aus dem Weg, und auch die barfüßigen Kinder mit ihren Schnurrbärten aus Rotz und den ausgestreckten Bettelhändchen schienen sich ausschließlich an ihre Fersen zu heften. Und dann war da noch die Sache mit dem Verfolger. Anna fühlte sich beobachtet, daran gab es nichts zu rütteln, und das Gefühl war unangenehm genug. Am späten Nachmittag machte sie sich auf den Rückweg zur Freakstreet. Kathmandus Sehenswürdigkeiten würden auch morgen noch existieren – sie hatte fürs Erste die Nase voll.
Kurz vor der Lodge kam sie am Snow Man Café vorbei. Sie zögerte kurz und stieß dann die Tür auf. Auch wenn sie sich mit Ram kaum unterhalten konnte, lockten das Café und sein freundlicher Besitzer wie ein sicherer und gemütlicher Hafen. Im Übrigen würde ein Stück Schokoladentorte genau das Richtige sein, um den Geschmack des verdorbenen Tages zu vertreiben.
Im Café war lediglich der unattraktive Tisch neben der Treppe frei. Anna wollte sich gerade nach hinten durchdrängeln, als eine große Gruppe an den beiden vorderen Tischen Ram um die Rechnung bat. Anna wartete, bis die Studenten gegangen waren, und setzte sich dann auf einen der frei gewordenen Stühle. Sichtlich erfreut über ihren Besuch, brachte Ram unaufgefordert einen Milchtee und schnitt ihr dann ein großzügig bemessenes Stück Torte ab. Er hätte sich gern zu ihr gesetzt, aber seine Gäste erlaubten ihm keine Pause. Anna nickte verständnisvoll. Sie hatte alle Zeit der Welt und konnte warten, bis das Geschäft abflaute. Es war schön zu sehen, dass wenigstens ein Mensch in der Straße etwas Umsatz machte, wenn auch die Ausländer fehlten, für die das Café vor beinahe vier Jahrzehnten seine Pforten geöffnet hatte. Sie suchte ihren Reiseführer aus der Tasche und vertiefte sich in die Beschreibungen der Bergwanderungen. Uma hatte ihr vorgeschlagen, eine einwöchige Wanderung zu unternehmen. Er begleitete häufiger Touristen in die Berge und kannte sich gut aus. Anna hatte spontan abgelehnt, doch mittlerweile fand sie die Vorstellung immer attraktiver, in die Berge zu gehen und dort dem Geist ihres Vaters nachzuspüren. Die Lektüre des Reiseführers war vielversprechend. Es gab gut organisierte und bezahlbare Trekkingtouren aller Schwierigkeitsgrade und von unterschiedlicher Dauer. Schade nur, dass sie nicht mit Uma wandern konnte. Sie barg ihr Gesicht in den Handflächen und ließ ihre Gedanken zu dem ihr unbekannten Heimatdorf von Umas Familie fliegen. Wie mochte es ihnen
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