Im Tal des Schneeleoparden
verschwommene Ahnung seiner kaum erbsengroßen Gesichtszüge. Papi? Hätte ich dich Papi genannt? Hättest du mich geliebt? Sie schluckte hart. Um nicht mitten im Café in Tränen auszubrechen, riss sie sich von dem Bild ihres Vaters los und tippte auf den hochgewachsenen dritten Mann. »Könnte es sein, dass dies Achim Bendig ist?«
Uma übersetzte, aber Ram zuckte lediglich die Schultern. Seine Erinnerung hatte einige wenige Details aufblitzen lassen, mehr nicht. Immerhin lag all das über dreißig Jahre zurück, sagte er entschuldigend. Er löste das Foto aus dem Album und gab es Anna, damit sie eine Kopie davon machen lassen konnte.
Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis sich Ram seiner Arbeit zuwenden musste. Das Café hatte sich mit Gästen gefüllt, die seine Aufmerksamkeit erforderten. Er versprach Anna, sich ebenfalls nach Achim Bendig umzuhören – Uma hatte bisher nichts herausfinden können, da er erst Ende der siebziger Jahre als Junge nach Kathmandu gekommen war und längst nicht so viele Alteingesessene kannte wie Ram. Kurz darauf verließen Anna und Uma das Café. Als sich Anna in der Tür noch einmal umdrehte, bemerkte sie, dass sich der bärtige alte Mann unbemerkt von ihr an den Tisch direkt hinter ihr gesetzt hatte. Unbehaglich fragte sie sich, ob er schon lange dort gesessen und ihrem Gespräch gelauscht haben mochte. In diesem Moment traf sie der Blick des Alten. Er musterte sie mit unverhohlener Neugierde. Anna schauderte. Welches Interesse konnte dieser Mensch mit seinen Dreadlocks an ihr haben? Der Mann sah wieder beiseite, und Anna verließ fluchtartig das Café.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Uma, nachdem er auf die Straße getreten war.
»Hast du den gelbgekleideten Alten gesehen?«
Uma nickte. »Hat er dir Angst eingejagt?«
»Ein wenig«, gab sie zu.
»Ich kann es verstehen. Der Alte ist tatsächlich ein schräger Vogel, aus dem keiner so recht schlau wird. Ich glaube, er ist Italiener, vielleicht auch Franzose, nennt sich aber Khagendra, der Herr der Vögel. Er taucht regelmäßig in Kathmandu auf, bleibt ein paar Monate und verschwindet dann wieder, niemand weiß, wohin. Seine Aufmachung weist ihn als Sadhu aus, aber ich traue ihm nicht über den Weg. Manchmal stellt er sich auf die Freakstreet oder den Durbar-Platz und predigt den Leuten wirres Zeug, das mit Hinduismus nicht viel zu tun hat. Ich glaube, er ist ein harmloser Irrer, aber halte dich besser von ihm fern.«
Anna lachte verlegen. »Ich glaube, meine Nerven sind etwas überreizt.«
»Das schätze ich auch. Und deshalb tun wir jetzt etwas dagegen: Ich soll dir von Kopila ausrichten, dass du heute Abend bei uns zum Essen eingeladen bist. Es gibt Dhal Bhat.«
»Was ist das?«
»Unser Nationalgericht: Reis, Linsen und eingelegtes Gemüse.«
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38
E twa zur gleichen Zeit, als Anna an die Tür von Umas Wohnung klopfte, schlenderte Tara in einem der nobleren Stadtviertel Kathmandus an der mit Eisenspitzen bewehrten Gartenmauer einer Villa entlang und warf einen unauffälligen Blick durch das vergitterte Tor der Auffahrt. Wie schon die letzten sechs oder sieben Male war keine Menschenseele zu sehen. Um die Mittagszeit herum waren Stimmen aus einem der oberen Fenster gedrungen, und am Nachmittag hatte ein großes Auto das Grundstück verlassen, ohne dass Tara die hinter den spiegelnden Scheiben verborgenen Insassen hätte erkennen können. Etwas später verließ eine ältere Frau das Anwesen. Tara war der Frau mit klopfendem Herzen gefolgt und hatte auf eine Gelegenheit gewartet, sie anzusprechen, doch auch das war ihr nicht gelungen. Die Frau erledigte ihre Einkäufe und verschwand dann wieder hinter den abweisenden Mauern.
Tara verbarg sich hinter einem Mauervorsprung, um das Gartentor zu beobachten. Abwesend spielte sie mit den Ohren des Hundes. Achals Freunde hatten die Adresse des Bhoots schnell in Erfahrung gebracht, und nun belauerte sie schon den zweiten Tag sein parkgroßes Anwesen, ohne dass sie ihre Schwester gesehen, geschweige denn sich eine Möglichkeit ergeben hätte, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen. Es war nicht einfach, ein Haus in dieser Gegend zu beobachten, wo alles ordentlich war und sich kaum Menschen auf der Straße aufhielten. Die Anwohner bedachten sie bereits mit misstrauischen Seitenblicken, und Tara sorgte sich, jemand könne dem Bhoot zutragen, dass sich eine junge Frau in Begleitung eines großen Hundes für ihn interessierte. Tara gab dem Hund einen Klaps. Morgen
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