Im Tal des Schneeleoparden
musste sie ihn in der Wohnung lassen, auch wenn es eine Zumutung für Sarungs Eltern darstellte. Durch ihn fiel sie zu sehr auf.
Sie bemerkte gerade noch rechtzeitig das Geräusch eines sich nähernden Autos und zog sich tiefer in ihre Deckung zurück, um dem Scheinwerferlicht auszuweichen. Wie konnte sie nur derart unaufmerksam sein! Der Bhoot durfte sie auf keinen Fall bemerken. Als sie vorsichtig um den Mauervorsprung spähte, sah sie einen Mann aus dem Wagen steigen und sich am Tor zu schaffen machen. Trotz der Dunkelheit wusste Tara instinktiv, dass es sich um den Peiniger ihrer Familie handelte. Die Härchen auf ihren Unterarmen richteten sich auf. So nahe war er, und doch durfte sie, konnte sie nichts tun. Um nicht vor Verzweiflung aufzuschreien, biss sie sich in die geballte Faust, bis es schmerzte. Der Hund knurrte. Tara hatte Mühe, ihn zurückzuhalten. Der Geruch des Bhoots war zu ihm herübergeweht, und er erkannte in ihm jenen Mann, der ihm vor drei Sommern einen so heftigen Tritt versetzt hatte, dass er mehrere Tage kaum hatte laufen können.
Sobald das schwarze Auto auf das Grundstück gefahren und die Straße wieder still war, hastete Tara zum Tor. Während des Laufens nestelte sie das Schultertuch über ihre Haare und halb übers Gesicht. Beim Tor angekommen, krümmte sie den Rücken und verfiel in das Schlurfen einer alten Frau. Während sie langsam am Tor vorbeihumpelte, entstiegen dem Wagen der Bhoot und zwei Frauen, eine junge und eine ältere. Der Kegel einer über der Haustür angebrachten Lampe ließ ihre Kleidung aufleuchten, doch leider kehrten sie Tara die Rücken zu. Die Frau vom Nachmittag öffnete die Haustür, begrüßte die Ankömmlinge ehrerbietig und trat dann einen Schritt zurück, um die ältere Frau eintreten zu lassen. Tara blieb stehen. Die junge Frau war draußen geblieben und sprach mit dem hinter der Kofferraumklappe verborgenen Bhoot. Ihr schillernder Seidensari überstieg alles an Pracht, was Tara je gesehen hatte. Sollte diese elegante Frau tatsächlich ihre Schwester sein? Dreh dich um, betete Tara, dreh dich bitte um! Der Hund wurde unruhig, und bevor Tara ihn hindern konnte, ließ er ein freudiges Kläffen hören. Die junge Frau wandte sich um. Taras Magen krampfte sich zusammen, als sie die vertrauten Züge sah. Sie schob ihr Tuch beiseite, und im nächsten Moment zuckte Erkennen über das Gesicht ihrer Schwester.
Ihnen war nur ein winziger Augenblick vergönnt, bevor die rauhe Stimme des Bhoots ertönte. Sofort verschwand das Lächeln aus dem Gesicht ihrer Schwester. Mit einem traurigen Blick verabschiedete sie sich von Tara und lief mit hängenden Schultern ins Haus.
Tara musste sich an die Metallstäbe des Tors klammern, um nicht zu stürzen. Mit dem Verschwinden ihrer Schwester wich auch all ihre Kraft. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Ein Schwindel erfasste sie, und sie schloss die Augen. Bahani, dachte sie, was haben wir dir angetan?
»Was willst du, Alte? Hier bettelst du vergeblich. Verschwinde!« Der Bhoot war hinter dem Auto hervorgekommen und hatte das Tor schon fast erreicht.
Tara gelang es gerade noch, sich das Tuch vor Mund und Nase zu ziehen. Etwas Unverständliches vor sich hin brabbelnd, schlurfte sie davon, verfolgt von seinen kalten Blicken, deren Eisblitze sie im Rücken spürte wie Stiche. Den ganzen langen Weg nach Jaisidewal traute sie sich nicht, ihre Tarnung aufzugeben. Vielleicht wollte sie es auch nicht. Sie fühlte sich ohnehin wie eine Greisin.
Am übernächsten Tag wurde Anna das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden, doch sooft sie sich auch umdrehte, konnte sie niemanden entdecken, der ihr besondere Aufmerksamkeit schenkte. Andererseits wäre es jedem Verfolger ein Leichtes, im Gedränge von Kathmandus Straßen unterzutauchen, sobald Anna versuchte, ihn zu erspähen.
Wahrscheinlich war der Verfolger ohnehin nur ein Hirngespinst, geboren aus ihrer Verunsicherung. Anna war sich nicht im Klaren darüber, ob die Soldaten schon am Tag ihrer Ankunft in der Stadt gewesen und ihr in ihrer Begeisterung für alles Neue einfach nicht aufgefallen waren, oder ob ihre Zahl in den letzten beiden Tagen tatsächlich zugenommen hatte. Es war müßig, darüber nachzudenken, denn jetzt waren sie da, und ihre Camouflage-Anzüge, die schwarzen Schnürstiefel und vor allem ihre Gewehre waren erschreckend real. Anna hätte gern mit jemandem über ihre Beobachtung gesprochen, am liebsten mit Umakant, doch der war mit seiner Familie am
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