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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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ergehen?
    Als sie den Kopf wieder hob, fand sie sich einem der Wesen aus den Alpträumen der letzten Nacht gegenüber. Anna blinzelte verblüfft, doch das Wesen löste sich nicht in Nebel auf, leider.
    »Jesus, auch genannt Yuz Asaf, Allah und Shiva seien mit dir!«, sagte der Nachtmahr. Auf Französisch. Und schlug ein Kreuz.
    Anna verschlug es vollends die Sprache.
    Vor ihr saß der gelbgekleidete Alte, der ihr schon vor drei Tagen aufgefallen war, und starrte sie ungeniert aus tabakbraunen Augen an. Obwohl er sich große Mühe gab, wie ein einheimischer Sadhu auszusehen, konnte er seine europäische Abstammung nicht verleugnen. Seine kuriose Aufmachung verwirrte Anna, andererseits hatte sie auf dem Subkontinent schon einige exzentrisch ausstaffierte heilige Männer gesehen. Immerhin war dieser weder nackt, noch hatte er sich mit Asche oder Kuhmist eingeschmiert. Auf seiner Stirn prangte ein mit gelber und roter Farbe aufgetragenes geometrisches Muster, sein hagerer Schädel mit der an einen Vogelschnabel erinnernden Nase wurde von einem schmuddelig gelben, nachlässig geschlungenen Turban gekrönt. Dreadlocks schlängelten sich wie Tentakel darunter hervor und bedeckten seine mageren Schultern und den Rücken. Es musste den Mann Jahrzehnte gekostet haben, bis sie diese Länge erreicht hatten. Der im Gegensatz zu den verfilzten Haaren sauber ausgekämmte Prachtbart war ebenfalls bemerkenswert lang und bis auf die Farbe, ein dumpfes Grau mit roten Strähnen, des Weihnachtsmanns würdig. Um den Hals und an den Handgelenken trug er Unmengen von Ketten aus braunen Holzkugeln. Sein gelbes Baumwolloberteil war für die herrschenden Temperaturen viel zu dünn, doch der Mann schien unempfindlich gegen die Kälte zu sein. Verwaschene Tätowierungen bedeckten seine bloßen Arme. Neben seinem Stuhl lehnte ein Dreizack.
    »Die Welt ist voller Wunder«, intonierte der Mann nun salbungsvoll. Sein Blick ließ Anna endlich frei und umfasste in seiner Unbestimmtheit die ganze Welt. Anna schwankte zwischen Faszination und gebotener Wachsamkeit. Umas Mahnung, sich von dem komischen Kauz fernzuhalten, klang ihr im Ohr. Andererseits, was konnte er ihr in einem gutbesuchten Café anhaben? Sie spähte zur Seite. Ram stand hinter seinem Tresentisch und nickte ihr aufmunternd zu. Anna entspannte sich. Was würde als Nächstes kommen?
    Sie räusperte sich, um ihre Stimme wiederzufinden. »Ja, das ist sie wohl«, antwortete sie. »Wunder Nummer eins: Woher wussten Sie, dass ich Französisch spreche?« Die Frage war mehr als berechtigt. Hinter ihrem Zusammentreffen steckte offensichtlich mehr, als sie anfangs vermutet hatte. Handelte es sich bei ihrem eingebildeten Verfolger vielleicht um den Alten? Anna verwarf die Möglichkeit sofort wieder: Sein Paradiesvogelaufzug war nicht dazu angetan, unentdeckt zu bleiben.
    Er beendete seine Inspektion der Unendlichkeit und verkündete: »Ich habe einen guten Draht zu Shiva und San Francesco.«
    Der Mann war eindeutig verrückt. Shiva und Franziskus, der mit den Vögeln sprechen konnte? Hatten dessen gefiederte Freunde ihm einen Tipp gegeben?, dachte Anna mit einem Anflug von Belustigung.
    Sie hatten. »Die Vögel sind ihre Botschafter«, sagte der Mann beiläufig. »Ich bin ihrem Ruf gefolgt, um mit Ihnen zu sprechen, bevor andere es tun.«
    »Was wollen Sie von mir?«
    »Lautet die Frage nicht eher: Was wollen Sie von mir?«
    »Sie sprechen in Rätseln.«
    »Das Leben ist rätselhaft.« Wieder glitt sein Blick ins Nirwana oder zumindest dorthin, wo er es vermutete. »Die Götter treiben ihr Spiel mit uns, indem sie die Lösungen verschleiern und uns im Dunkeln tappen lassen. Kaum einem Sterblichen gelingt es, die Nebel zu zerreißen.«
    »Aber Sie gehören zu den Auserwählten?« Anna erschrak über den scharfen Ton ihrer Stimme.
    Er ignorierte ihre Aggressivität. »Manchmal ist es mir vergönnt, einen Zug auf dem großen Spielplan des Universums zu verstehen.« Seine Augen hatten einen glasigen Ausdruck angenommen.
    Ja, dachte Anna, wenn du so bekifft bist, dass du nicht mehr weißt, wie du heißt. Und jetzt lass mich in Ruhe. Sie machte Anstalten, sich zu erheben, als sich der Alte blitzschnell vorbeugte. Anna drückte sich unwillkürlich gegen ihre Stuhllehne, um Distanz zu dem Mann zu schaffen. Der schlangenhaarigen Medusa gleich schienen sich seine Haare zu winden und aufzubäumen. Hatte Uma nicht erwähnt, der Alte würde sich der Herr der Vögel nennen? Nun, Herr der Schlangen wäre

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