Im Tal des Schneeleoparden
sich dicht zu ihrem Ohr. »Ich muss weg. Seien Sie morgen Abend um sieben vor der Annapurna Lodge.«
Bevor Anna ihn aufhalten konnte, war er schon aus der Tür. Anna sprang auf und eilte ihm nach, prallte aber mit einem stämmigen Nepalesen zusammen. Anna murmelte eine Entschuldigung und ließ dem Mann den Vortritt. Als sie endlich auf der Straße stand, sah sie gerade noch den Zipfel des gelben Wickelrocks um die nächste Straßenecke verschwinden. Anna schickte dem Mann, der sich in dieselbe Richtung wie der Alte entfernte, einen Fluch hinterher. Wäre der ungehobelte Kerl nicht gewesen, hätte sie den Herrn der Vögel vielleicht noch einholen können. Ihn und ihren Anhänger. Den hatte er nämlich in der Aufregung behalten.
Verärgert setzte sie sich wieder auf ihren Platz. Was sollte das alles? Warum diese Geheimniskrämerei? Ram brachte ihr ein neues Glas Milchtee, verdrehte die Augen und vollführte mit dem Zeigefinger einen Kreis vor seiner Stirn. Er teilte offenbar die allgemeine Meinung, dass der Mann verrückt war, aber Anna war sich dessen nicht mehr so sicher. Zumindest zeitweise hatte er durchaus vernünftig gewirkt.
Und dann lief es ihr kalt den Rücken herunter. Seine Augen! Sie kannte dieses ungewöhnliche Tabakbraun nur zu gut.
Weil sie es jeden Morgen sah.
Im Spiegel.
Zum Abendessen ging Anna ins Restaurant der Annapurna Lodge. Da es empfindlich abgekühlt war, zogen die wenigen Gäste den Innenraum dem Hof vor. Während Anna einen Tisch wählte, drangen Gesprächsfetzen in Schwyzerdütsch an ihre Ohren, und sie fragte die beiden jungen Männer spontan, ob sie sich zu ihnen setzen dürfe. Etwas Ablenkung würde ihr guttun. Ihre Gedanken hatten sich in einer Endlosschleife festgefahren, die zu durchbrechen ihr wohl ohnehin erst morgen, beim Treffen mit dem Herrn der Vögel, gelingen würde.
Matthias und Peter waren versierte Bergwanderer aus Graubünden und hatten sich mit ihrem dreimonatigen Nepalurlaub einen Herzenswunsch erfüllt. Voller Bewunderung lauschte Anna ihren Erzählungen über die vielen Touren der letzten Monate, und obwohl die Männer die Anstrengungen nicht kleinredeten, wuchs in ihr der Wunsch, ebenfalls zu den Himalaya-Riesen aufzubrechen. Seit ihrer Ankunft in Kathmandu hatten sich die Berge nicht gezeigt, ihr kam es fast schon vor, als würde sie einem gigantischen Betrug aufsitzen und die Berge existierten gar nicht.
»Seid ihr auf Rebellen gestoßen?«, fragte Anna. »Ich habe gehört, dass es in den Bergen von ihnen wimmeln soll.«
»Wimmeln ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck«, sagte Matthias. »Aber man trifft hin und wieder auf kleinere Gruppen.«
»Ist das nicht gefährlich?«
»Für Soldaten vielleicht, aber nicht für Touristen. Sie knöpfen dir etwa hundert Dollar ab als eine Art Revolutionssteuer.«
»Hundert Dollar? Das wird auf Dauer aber teuer.«
»Das befürchteten wir auch. Aber du bekommst eine Quittung und legst sie dann der nächsten Gruppe vor.«
»Ihr macht Witze!«
Matthias und Peter schüttelten grinsend die Köpfe. »Ich kann die Quittung holen«, erbot sich Peter.
Anna winkte ab. »Das ist zu verrückt, um es sich auszudenken. Trotzdem stelle ich es mir unheimlich vor, in der Wildnis einer Gruppe Bewaffneter gegenüberzustehen. Mir reichen schon die Soldaten in der Stadt.«
»Sie waren nett, und wenn jemand Englisch sprach, versuchten sie, uns über ihre Motive aufzuklären. Unheimlich? Nein, da haben wir Schlimmeres erlebt. Mir läuft heute noch eine Gänsehaut über den Rücken, wenn ich daran denke.«
»Was denn?« Erstaunt bemerkte Anna, wie die robusten Männer unsichere Blicke tauschten.
»Vor etwa zwei Monaten hatten wir eine Begegnung der dritten Art«, erzählte Peter schließlich und begann von ihrem gruseligen Erlebnis auf der Passhöhe des Annapurna-Rundwegs zu berichten.
Anna lauschte verwirrt. Die Schweizer wirkten zu erdverbunden, um an Yetis oder sonstige übernatürliche Wesen zu glauben. Machten sie sich über sie lustig? Ihre ernsten Mienen ließen das Gegenteil vermuten. »Habt ihr herausgefunden, was es war?«, fragte sie.
»Nein. Aber wir haben Geschichten gehört. In den Bergen soll sich ein Mann herumtreiben, der sich ganz nach Belieben in einen Schneeleoparden verwandelt. Warum er das tut, konnte oder wollte uns niemand sagen. Seltsam fanden wir auch, dass die meisten zwar von ihm gehört hatten, aber niemand über ihn sprechen wollte. Ich glaube, sie hatten Angst, den Pangje durch bloße
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