Im Tal des Schneeleoparden
taumelte sie zurück. Die Autotür sprang auf, und eine weitere Frauengestalt erschien. Ohne auf die Gestrauchelte zu achten, rannte die Frau davon.
»Bei den Göttern, sie ist es! Achal, sieh nur, sie läuft in die falsche Richtung. Schnell, wir müssen sie einholen!«
Bevor Achal das Taxi anlassen konnte, schoss ein großer Mann aus dem schwarzen Auto und nahm die Verfolgung auf. Achal nestelte am Zündschlüssel, aber der Wagen sprang nicht an. Der Mann schloss zu der Frau auf und riss an ihrem Zopf. Sie prallte mit dem Rücken gegen ihn. Entsetzt musste Tara mit ansehen, wie der Bhoot ihrer Schwester ins Gesicht schlug. Dann zerrte er sie zurück zum Wagen und stieß sie in den Fond. Er selbst glitt wieder auf den Fahrersitz, und wenige Sekunden später raste das schwarze Auto an ihnen vorbei und um die nächste Straßenecke, bevor Tara und Achal begriffen hatten, was geschehen war.
»Meinst du, er hat es herausbekommen?«, flüsterte Tara.
»Ich weiß es nicht«, sagte Achal. »Vielleicht nicht. Vielleicht hatte er ohnehin vor, den heutigen Abend woanders zu verbringen und deine Schwester mitzunehmen. Ein Mann wie er hält es sicher nicht für nötig, seine Geliebte über seine Pläne zu unterrichten.«
»Aber nun hat sie versucht zu flüchten.« Tara sank in sich zusammen. »Er wird sie noch stärker bewachen.«
»Das hat er doch ohnehin schon ausreichend getan. Bestimmt war es nicht ihr erster Fluchtversuch.«
»Meinst du?« Tara schöpfte neue Hoffnung. Sie war Achal dankbar für den Strohhalm.
»Aber sicher. Wenn deine Schwester nur halb so mutig ist wie du, wird sie sich schon häufiger gegen ihr Schicksal aufgelehnt haben.«
»Meinst du, wir sollten auf die Rückkehr des Autos warten?«
»Ich glaube kaum, dass das sinnvoll ist. Hast du gesehen, welch prächtigen Sari deine Schwester trug? Bestimmt gehen sie auf eine Feier. Ich fürchte, du wirst noch einmal mit der Haushälterin Kontakt aufnehmen und einen neuen Termin ausmachen müssen.«
»Ja«, sagte Tara tonlos, »das muss ich wohl.« Dann stieg sie aus dem Taxi.
»Wo willst du hin?«
»Ich möchte einen Blick in den Garten werfen. Jetzt wissen wir ja, dass er nicht zu Hause ist.« Ohne auf Achals Einwände zu achten, ging sie zum Tor hinüber. Achal folgte ihr zögerlich. Bis auf seine Schritte lag die Straße in völliger Stille. Tara umklammerte die Gitterstäbe, wie schon drei Abende zuvor. Wie sollte sie jemals ihre Schwester aus dieser Festung befreien?
Das Tor gab nach. In all der Aufregung um ihre Schwester hatte der Bhoot vergessen, es zu schließen. Mit angehaltenem Atem schlüpfte Tara hindurch.
»Du bist verrückt!«, flüsterte Achal. »Was ist, wenn er Hunde hat? Oder einen Wächter?«
Tara schüttelte den Kopf. »Er hat keine Hunde. Komm!«
Die Deckung von Bäumen und Büschen nutzend, umrundeten sie das Haus. Tara spürte das Blut in ihren Ohren pochen. Die schwarzglänzenden Fenster erschienen ihr wie Tore zur Hölle, hinter denen Dämonen lauerten und jede ihrer Bewegungen verfolgten. Jeden Augenblick erwartete sie Hände um ihren Hals, Zähne im Fleisch, und dann Finsternis und Entsetzen, doch nichts geschah. Unbehelligt erreichte sie den sich hinter dem Haus erstreckenden Garten, der von der Größe und Anlage her eher einem Park glich als einem privaten Grundstück. Unwillkürlich verhielt Tara ihre Schritte. In Kathmandu wurde es niemals ganz dunkel, und im diffusen Licht des Mondes und der Straßenlaternen erkannte sie beschnittene Bäume und Sträucher, einen Brunnen mit glitzerndem Wasser und steinerne Figuren. Sie roch die Blumen, spürte das frisch gesprengte, weiche Gras unter ihren Füßen, und sie ahnte, wie schön dieser Garten war. Tränen traten ihr in die Augen. Wie konnte etwas so Dunkles wie der Bhoot etwas so Wundervolles besitzen?
»Die Anlage sollte für alle zugänglich sein«, murmelte Achal. »Sie ist viel zu groß für eine Familie. Dieser Bhoot muss unglaublich reich sein, Tara. Woher hat er das Geld?«
Tara zuckte die Achseln. Sie wusste es nicht. Dann entdeckte sie eine ebenerdige, von einer Balustrade umgebene Terrasse mit einer Tür ins Haus. Alle Vorsicht außer Acht lassend, schwang sie sich über die Balustrade. Wenn sich die Terrassentür öffnen ließ, würde sie in das Haus gehen, nach Spuren ihrer Schwester suchen, vielleicht etwas finden, was sie dem Bhoot entwenden und womit sie ihm schaden konnte.
Die Tür war verschlossen. Vergeblich drückte Tara sich die Nase an der
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