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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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Halb acht. Viertel vor acht. Er war noch immer nicht erschienen. Anna schwankte zwischen Verärgerung und Erleichterung. Der Herr der Vögel hatte einen unheimlichen Eindruck auf sie gemacht, andererseits hatte er ihre Eltern gekannt und würde sicherlich interessante Geschichten zu erzählen haben. Und dann waren da noch die geheimnisvollen Andeutungen über den Schneeleoparden. Und seine Augen. Die Augen, die ihren so glichen. Anna schluckte. Versteige dich nicht in ein Hirngespinst, warnte sie sich insgeheim. Es ist nur die Augenfarbe, und die ist so ungewöhnlich nicht. Dein Vater ist tot. Seine Knochen bleichen in einer unzugänglichen Schlucht des Himalayas. Wenn sie nach über dreißig Jahren nicht längst zu Staub zerfallen sind.
    Zehn vor acht. Anna zitterte mittlerweile vor Kälte, aber auch die seltsame Stille in der Stadt ließ sie schaudern. Während der letzten halben Stunde waren höchstens zwanzig Menschen die Freakstreet entlanggehastet, wo sonst Hunderte ihren Geschäften nachgingen. Irgendetwas stimmte nicht. Als hielte Kathmandu in Erwartung eines Schlages den Atem an. Anna fiel die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes ein: Es könne zu Streiks und Ausgangssperren kommen. War dem so, und sie hatte es nicht mitbekommen? Hatte der Sadhu die Verabredung deshalb nicht einhalten können? Anna wartete noch weitere fünf Minuten und ging dann wieder zurück in die Lodge. Sollte er noch kommen, würde er sie auch im Restaurant finden. Ramesh hatte Dienst, und sie bat ihn, den Alten zu ihr zu bringen, falls er nach ihr fragte. Sie wählte einen Platz im kaum besetzten Restaurant und bestellte ein Palak Paneer, indisches Curry aus Spinat und Frischkäse, sowie gebuttertes Naan-Brot. Möglichst unauffällig musterte sie die Gäste an den anderen Tischen. Die netten Schweizer waren abgereist, und die Handvoll anderer Leute kannte sie nicht. Kurz überlegte sie, ob sie sich zu einem sympathisch wirkenden Pärchen setzen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Die beiden schienen sich selbst genug zu sein. Anna wollte sich nicht aufdrängen. Ihr Essen kam.
    Ein Aufruhr in der Rezeption ließ sie aufblicken. Ramesh stritt mit einer Frau, deren Keifen unangenehm durch das Restaurant schrillte, und keine Sekunde später erschien die Frau im Durchgang zur Rezeption. Alle Unterhaltungen verebbten. So wie die Frau in den Raum starrte, starrten die Gäste zurück.
    Sie musste um die siebzig sein, eine Europäerin mit verfilzten, nach allen Seiten abstehenden grauen Haaren. Ihre Kleidung bestand aus einem Sammelsurium von übereinandergetragenen bunten Röcken und Strickpullovern, wie es sie in der Freakstreet zu kaufen gab. Sie trug zwei verschiedene Turnschuhe. Sie war erschreckend dünn. Und erschreckend schmutzig.
    »Was glotzt ihr mich so an?« Die Stimme der Frau war ebenso verbraucht wie ihr Äußeres. Zähne hatte sie kaum noch, ihr Mund war eine dunkle Höhle.
    Anna zuckte zusammen. Deutsch. Die Frau hatte eindeutig deutsch gesprochen. Während sich die anderen Gäste peinlich berührt abwandten, fing die Frau Annas Blick auf und schlurfte umgehend auf sie zu.
    »Na, Herzchen, was essen wir denn Schönes? Oh, Palak Paneer.« Ihre Zunge fuhr über die Lippen, während sie gierig auf Annas Teller starrte. Es kümmerte sie nicht, ob Anna sie verstanden hatte, nur das Essen war ihr wichtig. Ohne Unterlass brabbelte sie weiter, fiel vom Deutschen ins Englische und Nepalesische und wieder zurück. Anna wurde aus ihrem Wortschwall nicht schlau, wollte es auch nicht. Eigentlich wollte sie die Alte nur loswerden. Trotzdem schob sie ihr den Teller mit dem Brotfladen zu.
    »Nehmen Sie das Naan und dann gehen Sie, bitte«, sagte sie und ärgerte sich im selben Moment, dass sie nicht nachdrücklicher aufgetreten war.
    »Naan? Nur Naan für die hungrige Anita? Die Welt ist hart! Ein bisschen mehr Respekt vor dem Alter, Kleine!«, kreischte die Alte.
    Im selben Moment hob auch Anna die Stimme. »Sie sind Anita?«, rief sie ungläubig.
    Der Kopf der Frau ruckte hoch, wässrige Augen, gelbstichig von einer nicht ausgeheilten Hepatitis, tasteten Millimeter für Millimeter Annas Gesicht ab. »Klar, Herzchen. Anita. Sie ist immer noch da. Das wundert dich, was? Hast mich ja immer von oben herab behandelt. Warst was Besseres, weil du den feschen Franzosen gevögelt hast, hinter dem alle her waren. Hast dich nicht verändert, Kleine. Wo ist er denn, dein Liebster?« Bevor Anna antworten konnte, griff Anita blitzschnell nach Annas

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