Im Tal des Schneeleoparden
den Straßen hielten den Blick gesenkt, niemand lachte, niemand scherzte. So schnell es ging, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, hastete Tara zum Stadtzentrum, überquerte den gespenstisch ruhigen Durbar-Platz und tauchte jenseits der großen Tempel erneut in die Schatten der Gassen. Bei einem der Händler am Indra Chowk kaufte sie eine Girlande aus orangefarbenen Tagetes und ein Bündel Räucherstäbchen und eilte weiter. Kurz vor dem Kel Tole trat sie zwischen zwei große Schneeleopardenfiguren aus Metall in einen unscheinbaren Eingang. Im Vorbeigehen rieb sie über die blanken Flanken der Bronzeskulpturen und huschte dann in den hinter dem Durchgang liegenden Hof. Tauben stoben auf, doch Tara beachtete sie nicht und überquerte ohne Zögern den Vorplatz bis zum eigentlichen Tempelgebäude. Sie verneigte sich tief vor der Figur des Seto Machhendranath und legte ihre Gaben vor ihr ab. In ihrer hinduistischen Glaubenswelt stellte Seto Machhendranath eine Inkarnation Shivas dar, doch heute lag Tara mehr an der buddhistischen Sichtweise, denn die Buddhisten betrachteten ihn als Avalokiteshvara, den Bodhisattva, der die Klagen der Leidenden hört. Sie hatte ihm viel zu erzählen und um vieles zu bitten.
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49
A ls Tara gerade vor dem Tempel ihren Kopf beugte und um Barmherzigkeit für den Alten und ihre Schwester bat, schraubte sich Achims Geländewagen auf einer erstaunlich gut ausgebauten Straße im Nordosten des Kathmandu-Tals höher und höher einen Berghang hinauf. Achim hatte Anna nicht verraten, wohin ihr Ausflug sie führte, also genoss sie einfach die Fahrt und stellte keine Fragen. Sosehr sie Kathmandu auch mochte, so gut tat es, den Mauern und dem Smog der Stadt zu entkommen und durch Felder und Dörfer zu fahren.
»Schade«, murmelte Achim.
»Was meinst du?«
Er wies voraus. »Wir haben den höchsten Punkt erreicht, und bei klarer Sicht ist das Langtang-Massiv zum Greifen nah. Wir haben nur leider keine klare Sicht.«
Anna lachte. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bindest mir einen Bären auf und es gibt überhaupt keinen Himalaya. Vielleicht hat ihn jemand fortgezaubert?«
»Könnte sein. Hanuman zum Beispiel, der hat Übung darin. Ich wollte dich mit einem großartigen Panorama überraschen, und nun das. Ich hatte zwar schon bei unserer Abfahrt befürchtet, dass es ziemlich diesig sein wird, aber dass die Berge ganz verschwunden sind, finde ich richtig gemein.« Er steuerte den Wagen einen staubigen Weg hinunter und hielt vor einem hässlichen Betonhaus. »Möchtest du trotzdem einen Spaziergang machen? Wir können uns dann später ins Restaurant dieses Hotels setzen und etwas essen.«
»Das hört sich gut an.«
Kurz darauf schlenderten sie über einen Weg, der von dem Ort Nagarkot mit seinen unattraktiven Hotelbauten fortführte. Unter ihnen breiteten sich Terrassenfelder aus, die sich bald im Dunst verloren. »Ist dies der Ort, an dem ihr euch damals entschieden habt, mit Moon in die Berge zu wandern?«
Achim nickte. Ein paar Schritte später hielt er an. »Was würdest du davon halten, ebenfalls in die Berge zu gehen?«
»Was meinst du?«
»Nun, einen längeren Treck zu machen. Wenn die Großen Weißen sich nicht zeigen mögen, gehen wir ihnen eben entgegen. Hier in Kathmandu sind wir zum Nichtstun verurteilt, und außerdem darf eigentlich niemand Nepal verlassen, bevor er nicht eine ausgedehnte Bergtour unternommen hat.«
»Überlegt hatte ich das auch schon«, sagte Anna nachdenklich. »Meinst du denn, ich könnte so etwas schaffen? Ich hatte immer Respekt vor den Bergen, aber seit ich über meinen Vater Bescheid weiß, habe ich richtig Angst. Ich bin genauso schwach wie meine Mutter, fürchte ich.«
»Rede keinen Unsinn. Du magst ihr sehr ähnlich sehen, aber das war’s auch schon. Du bist viel selbstbewusster. Deine Mutter hätte sich zum Beispiel mit Sicherheit nicht allein in den Bus von Darjeeling nach Kathmandu gesetzt. Im Ernst, ich glaube, eine solche Wanderung würde dir gut gefallen.«
»Ich glaube, auch.« Anna strich die Haare hinter die Ohren. »Ja, ich finde die Idee gut«, bestätigte sie noch einmal. »Wohin soll es denn gehen? Und wie lange? Könnten wir vielleicht –« Sie brach ab.
Achim musterte sie voller Mitleid. »Ich weiß, was du fragen wolltest«, sagte er leise. »Nein, wir werden nicht zum Milchsee gehen. Erstens kann es in der Gorkha-Region jeden Moment zu Kämpfen zwischen der Armee und den Rebellen kommen.«
Anna wartete.
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