Im Tal des Schneeleoparden
sein.«
»Das ist ja unglaublich! Was hat sie noch gesagt? Nun spann mich doch nicht so auf die Folter.«
»Eigentlich nichts. Ich habe sowohl ihr als auch Ingrid nur das Wichtigste durchgegeben: dass ich dich unter meine Fittiche genommen habe, dass es dir gutgeht und wir auf dem Weg in die Berge sind. Die Leitungen konnten jederzeit wieder zusammenbrechen – was sie im Übrigen während meines Gesprächs mit Ingrid auch taten.«
»Wie hat sie reagiert, als du anriefst?«
»Verblüfft. Völlig verblüfft«, sagte Achim. Sein Grinsen reichte von Ohr zu Ohr. »Sie hat sich gefreut. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass sie dir den Kopf abreißt, weil du mir ihre Nummer verraten hast. Ich habe ihr nur kurz die momentane Situation in Nepal geschildert und mit ihr abgesprochen, später einen längeren Schwatz zu halten. Sie wünscht uns jedenfalls eine tolle Wanderung.«
»Und was ist mit Kim? Wie geht es ihm in Kalkutta? Kommt er voran? Bleibt es dabei, dass ich ihn besuche?«
»Besuchen?«
Achim schien irritiert, und das wiederum irritierte Anna. »Ich will doch vor meiner Abreise nach Deutschland ein paar Tage mit ihm in Kalkutta verbringen«, sagte sie, nicht sicher, ob sie Achim davon erzählt hatte. »Hat er denn gar nicht mit seiner Mutter gesprochen?«
»Oh, doch, doch. Natürlich hat er das. Ingrid sagte, in Kalkutta liefe alles nach Plan.«
»Mehr nicht?«
Achim zuckte die Achseln. »Wie ich schon sagte, bevor Ingrid und ich wirklich zu Einzelheiten kommen konnten, brach die Verbindung ab.«
»Schade«, sagte Anna, mehr zu sich selbst als zu Achim. »Aber egal, es ist ja alles in Ordnung, und von Ingrid wird er erfahren, warum ich ihm keine E-Mail schreiben konnte.« Sie hob das Glas. »Auf unsere Wanderung!«
Achim stieß mit ihr an. »Auf unsere Wanderung.«
Kim sprang aus einem Taxi und hastete in den Flughafen von Kalkutta. Bis zum Abflug seiner Maschine blieb ihm nur eine Stunde – eine viel zu kurze Zeit für die lahmen Flughafenangestellten. Und sein Gepäck musste er auch noch aufgeben. Entgegen seiner sonstigen Gelassenheit trat Kim von einem Fuß auf den anderen, als er sich erst in der Schlange vor dem Schalter der Fluggesellschaft und dann in jener vor der Passkontrolle wiederfand.
Er schaffte es. Zweiundfünfzig Minuten nachdem er in den Flughafen gestürmt war, ließ er sich erleichtert in den Sitz seines Flugzeugs sinken.
Zwei Stunden später hatten sie noch immer keine Starterlaubnis. Die Sonne war längst untergegangen und damit Kims Hoffnung, in Patna den Nachtbus zur nepalesischen Grenze zu erwischen. Nachdem sein Ärger über die Verspätung verflogen war, fügte er sich ins Unvermeidliche und zwang sich, positiv zu denken. Anlass zur Freude gab es genug: Der Professor hatte ihn als Doktoranden akzeptiert und ihm eine Vorlesungsreihe in Aussicht gestellt. Seine Gespräche mit den Aktivisten einer Tierschutzorganisation waren ebenfalls interessant und in einer guten Stimmung verlaufen, und sein Freund hatte ihm das zweite Zimmer in seiner Wohnung angeboten – sein bisheriger Mitbewohner würde im März nach Delhi ziehen. Alles lief gut, so gut, dass es schon fast unheimlich war.
Der Dämpfer seiner Euphorie kam von anderer Seite: Anna. Seit ihrem Anruf bei seiner Mutter vor beinahe einer Woche hatten weder er noch Ingrid von ihr gehört. Er wusste von Ingrid um die Kommunikationsprobleme in Nepal, aber ein wenig seltsam schien es ihm doch, dass es ihr nicht gelungen war, eine E-Mail abzusetzen. Andererseits war das Netz auch in Indien nicht unbedingt das zuverlässigste. Wie sollte es dann erst in Nepal aussehen, wo Anna zu allem Überfluss auf öffentliche Internetcafés angewiesen war?, versuchte er sich zu beruhigen. Und doch schlich sich immer wieder der unangenehme Gedanke in seinen Kopf, dass sie ihm vielleicht gar nicht schreiben wollte. Dass seine Anziehungskraft verblasst war, sobald sie sich getrennt hatten. Dass er sie vielleicht von Anfang an falsch verstanden hatte, dass sie … Kim seufzte so laut, dass der Passagier neben ihm von seiner Zeitung aufsah und ihn fragte, ob alles in Ordnung sei.
Nach einer weiteren halben Stunde des Wartens setzte sich die Maschine endlich Richtung Rollfeld in Bewegung. Die Knoten in Kims Gedärmen lockerten sich, und es gelang ihm, sich ein wenig zu entspannen. Er konnte schließlich von Glück reden, dass der Professor ihn erst Anfang Dezember erwartete und er demzufolge über seine Zeit frei verfügte.
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