Im Tal des Schneeleoparden
Alterspatina überzogenen Bemalung von Bergen und Kringelwölkchen, Mönchen und Klöstern und stark verfremdeten Schneeleoparden, ein kleiner Tisch und das Bett, ebenfalls antik. Vorhänge aus einem hellen, handgewebten Wollstoff. Auf dem Boden ein wunderbarer Knüpfteppich mit einem bunten Tigermotiv.
Und auf dem Teppich ihr Rucksack sowie eine Nachricht. Anna nahm den Zettel. Er stammte von Achim, der ihr einen guten Morgen wünschte und sich dafür entschuldigte, über ihren Kopf hinweg gehandelt zu haben. Er hätte sich erdreistet, auf seinem Weg zum Büro in der Lodge vorbeizuschauen und ihre Sachen zu packen. Sie möge nachschauen, ob nichts fehlte. Da es in der Stadt immer gefährlicher würde, sei es ihm lieber, sie in der Sicherheit seines Hauses zu wissen. Er hoffe, sie würde sich gut fühlen, und freue sich, sie am Mittag bei einem gemeinsamen Mahl wiederzusehen.
Im ersten Moment ärgerte sich Anna tatsächlich. Was bildete sich Achim eigentlich ein? Doch ihr Ärger verflog so schnell, wie er gekommen war, und sie lächelte. Aus jeder Zeile sprach Fürsorglichkeit, und dass es in der Stadt nicht ungefährlich war, hatte sie spätestens am Abend zuvor begriffen. Es war gut, dass Achim die Entscheidung für sie getroffen hatte. Sie stand auf, suchte ihren Kulturbeutel aus dem Rucksack und verließ das Zimmer. In diesem Stockwerk gingen die Räume nicht ineinander über, sondern waren durch einen langen Flur verbunden, dessen Fenster sich ausnahmslos zu der vom Innenhof abgewandten Seite öffneten, entweder auf die Gasse oder aber in einen weiteren Hof, der von den Anwohnern als Parkplatz für Mofas und zum Trocknen von Wäsche benutzt wurde. Leider gab es keinerlei Hinweise, hinter welcher Zimmertür sich das Bad befand, doch bevor Anna aufs Geratewohl die erste Tür öffnen konnte, erschien Achims Adoptivtochter und zeigte es ihr. Gestenreich bedeutete die junge Frau Anna, sie möge ins Esszimmer kommen, sobald sie fertig sei.
Achim saß schon am Tisch und las in einer Zeitung, als Anna das Esszimmer betrat. »Guten Morgen«, machte sie sich bemerkbar und setzte sich auf einen der freien Stühle.
Achim sah auf. »Guten Morgen.« Dann zeigte er auf die bereitstehenden Teller. »Wie ich sehe, hast du ausschlafen können. Es ist bereits Mittag, meine Frau und Sapana werden gleich das Essen bringen.« Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben seinen Teller. »Ich hoffe, es war dir recht, dass ich deine Sachen geholt habe.«
Anna nickte. »Ich möchte mich für deine Mühe bedanken. Es ist völlig in Ordnung.«
»Das erleichtert mich sehr, denn die Situation scheint sich zuzuspitzen. Es gehen Gerüchte um, die Regierung wolle erneut eine Ausgangssperre verhängen, und dann würdest du in der Lodge ziemlich dumm dasitzen, ohne die Möglichkeit, einzukaufen oder Ähnliches.«
»Ist es so schlimm?«
»Es sind lange keine Bomben explodiert, es gibt keine Kämpfe in den Straßen, wenn du das meinst. Aber die Menschen sind äußerst angespannt und hamstern bereits Lebensmittel – sofern sie es sich leisten können, was längst nicht bei allen Bewohnern Kathmandus der Fall ist. Außerdem habe ich gehört, dass sich die Rebellen um Gorkha herum zusammenziehen. Die Region ist eine ihrer Hochburgen. Meine Quellen sind allerdings alles andere als zuverlässig.« Mit einem, wie Anna fand, unangebrachten Grinsen wies er auf die Zeitung. »Wie dem auch sei«, fuhr er fort, »ich würde es vorziehen, wenn du im Haus bleibst, bis ich Entwarnung geben kann.«
»Wie bitte? Ich möchte doch etwas sehen!«
»Das wirst du auch, aber gemeinsam mit mir. Ich habe mir den heutigen Nachmittag freigenommen, um mit dir etwas zu unternehmen. Was hältst du davon?«
»Viel. Aber kann ich das annehmen? Du hast schließlich eine Firma.«
»Das stimmt, aber erstens kann mein Vertrauensmann mich eine Weile vertreten, zweitens sind uns momentan die Hände gebunden. Die gesamte Kommunikation funktioniert den größten Teil des Tages nicht. Kein Telefon, kein Internet.«
»O nein! Irgendwann muss ich aber mal meine E-Mails absenden oder telefonieren. Meine Leute machen sich bestimmt schon fürchterliche Sorgen.«
»Hmm. Das ist natürlich wichtig.« Er lehnte sich zurück und glättete abwesend seine Haare. »Die Internetcafés kannst du vergessen. Ich hätte einen Vorschlag, allerdings …« Er zögerte. »Nein, das geht nicht.«
»Was geht nicht?«
»Nun ja, ich habe in der Firma einen Internetanschluss. Du
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