Im Tal des Schneeleoparden
hat die Geschichte verbreitet, er könne sich in einen Schneeleoparden verwandeln, denn bei der abergläubischen Bevölkerung dort oben ist es natürlich ein phantastischer Schutz.«
»Aber wie passt der Herr der Vögel ins Bild? Er ist doch nur ein alter Mann.«
»Na, na, so alt, wie er aussieht, ist er längst nicht. Höchstens sechzig.« Achim legte die Fingerspitzen zusammen und dachte nach. »Was hältst du von dieser Vermutung? Der Herr der Vögel könnte der Mittelsmann des Schneeleoparden sein. Vielleicht tätigt er die Geschäfte in Kathmandu? Es würde zumindest erklären, warum er immer wieder für Monate verschwindet. Seine Tarnung als Wanderasket wäre perfekt. Niemand hält diese Männer auf, niemand verdächtigt sie schlimmerer Dinge als des Besitzes von Drogen zum Eigenbedarf.«
Die Geschichte hört sich schlüssig an, dachte Anna. Aber irgendetwas stimmte nicht. Der Herr der Vögel mochte ihr unheimlich gewesen sein, aber sein Entsetzen über die Enthüllung, Bärbel sei gestorben, war echt gewesen. Hätte ein Schurke so reagiert? Und überhaupt: Warum hatte er sie zum Schneeleoparden bringen wollen? Anna setzte gerade an, ihre Zweifel zu äußern, als sie ein weiteres Mal an diesem Tag Achims undeutbarer Blick traf. Irritiert sah sie beiseite, dann rang sie sich ein Lächeln ab, das von Achim sofort erwidert wurde. »Ist ja auch nicht so wichtig«, sagte sie leichthin. »Vielleicht treffen wir den mysteriösen Schneeleoparden ja auf unserer Wanderung und können ihn selbst fragen, woher er meinen Vater kennt.«
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50
November 2003
Z um dritten Mal an diesem Nachmittag ging Anna ihre Sachen für die Wanderung durch, und mit jedem Teil, das sie in die Hand nahm, wuchs ihre Vorfreude. Morgen in aller Frühe ging es endlich los.
Seit vor zwei Tagen die Entscheidung für die Bergtour gefallen war, fühlte sie sich rastlos. Da Achim mit den Vorbereitungen beschäftigt gewesen war, hatte er gestern und auch heute kaum Zeit für sie gehabt. Sie war seiner Bitte nachgekommen und im Haus geblieben und hatte sich die Zeit mit Lesen verkürzt, immer wieder unterbrochen von vergeblichen Versuchen, zu telefonieren. Die Leitung blieb tot, und auch Achim konnte bisher keinen Erfolg vermelden, obwohl er ständig von seinem Büro aus versuchte, mit der Außenwelt zu kommunizieren.
Nachdem Anna ihren Rucksack endgültig gepackt hatte, schnappte sie sich ihr Schreibzeug und begab sich ins Esszimmer, um Briefe an Kim, Ingrid, Eddo und Rebecca zu schreiben. Achim wollte sie am nächsten Morgen von einem seiner Angestellten zur Post bringen lassen. Wahrscheinlich würden sie erst ankommen, wenn sie wieder zurück war, in Kathmandu oder Kalkutta oder sogar in Deutschland, doch mehr konnte sie im Moment nicht tun.
Achim kam am frühen Abend mit blendender Laune nach Hause und stürmte sofort in den Raum mit den türkisfarbenen Kissen, in dem Anna es sich mit einem Buch gemütlich gemacht hatte.
»Alles ist erledigt«, verkündete er. »Jetzt würde ich gern ein Bier trinken. Möchtest du auch eines? Weißt du, wo Brinda ist?«
Anna schüttelte den Kopf. Achims Frau und Sapana hatten sie den ganzen Tag mit Tee, Früchten und Keksen versorgt und sich ansonsten irgendwo in den Tiefen des großen Hauses aufgehalten. Anna hätte gern mehr Zeit mit ihnen verbracht, doch die Frauen waren zu schüchtern, um sich auf sie einzulassen. Anna konnte nur hoffen, dass sie ihr nicht böse waren, weil sie ihnen den Mann und Vater für einige Tage entführte.
»Warte, ich suche sie. Was ziehst du vor: Kingfisher oder Everest?«
Eine Viertelstunde später kehrte er mit zwei Flaschen Everest-Bier und zwei Gläsern zurück und setzte sich neben Anna.
»Ich habe meine Frau gebeten, das Abendessen schon um sieben Uhr aufzutragen, weil wir morgen früh um sechs Uhr aufstehen müssen. Ist das für dich in Ordnung?«
»Natürlich«, sagte Anna und nahm ihr Bierglas entgegen.
Achim trank einen tiefen Zug, dann lehnte er sich bequem zurück. »Liebe Grüße von Ingrid und Rebecca«, sagte er beiläufig.
Anna fuhr auf. »Du hast sie tatsächlich erreicht?«, rief sie aufgeregt. »Wie geht es ihnen? Hat Ingrid etwas über Kim erzählt? Wie geht es meinem Vater?«
Achim zog die Brauen hoch. »Deinem Vater?«, fragte er.
»Ja, meinem … ich meine, Eddo.«
»Er hat nicht abgehoben, war wohl nicht zu Hause, aber deine Freundin Rebecca bat mich dir auszurichten, dass er wieder obenauf ist. Die Krise scheint vorüber zu
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