Im Tal des Schneeleoparden
»Und zweitens?«, fragte sie schließlich.
»Zweitens halte ich es für keine gute Idee. Du würdest dich nur unnötig quälen. Lass Sylvain dort ruhen. Du brauchst keinen Ort, um an ihn zu denken.«
Anna schob die Hände in die Hosentaschen und blickte in die berglose Ferne. Nach einigen Minuten drehte sie sich wieder um. »Gut«, sagte sie. »Also, was schlägst du vor?«
»Einen Treck, den viele Touristen gehen: Wir wandern einen Teil des Annapurna-Rundwegs und dann vielleicht noch nach Mustang. Du musst doch deine Namenspatronin kennenlernen. Dort gibt es zwar auch Rebellen, aber ich habe gehört, dass sie Ausländer in Ruhe lassen.«
»Außer dass sie einem Geld abknöpfen.« Anna lachte. »Ich habe zwei Schweizer getroffen, die vor kurzem dort waren. Sie schwärmten in den höchsten Tönen von den netten Maoisten.«
»Na also. Ist es abgemacht?«
»Abgemacht.« Er dachte kurz nach. »Ich denke, in spätestens drei Tagen können wir aufbrechen. Ich kenne einige vertrauenswürdige Bergführer und Träger. Zelte, Schlafsäcke und Ähnliches habe ich ohnehin. Besitzt du anständige Schuhe?«
Anna wies auf ihre Turnschuhe.
»Also nicht. Macht nichts, Schuhe bekommen wir problemlos in Thamel.«
Sie spazierten noch eine Weile lang über den Bergrücken, und Anna lauschte fasziniert Achims begeisterten Ausführungen über den bevorstehenden Treck. Wenn sie noch Zweifel an seiner Bergerfahrung gehabt hatte, so verflogen sie endgültig, als er sie über Schuhe und Unterkünfte, über Ziegen und Höhenkrankheit, Eselkarawanen und Giardia informierte. Sie war in besten Händen.
»Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich sagen, es ist ein schlechtes Omen, eine solche Reise ausgerechnet hier zu planen«, bemerkte Anna, als er endlich eine Pause machte. »Zum Glück bin ich es aber nicht.«
»Das ist allerdings ein großes Glück«, sagte Achim und bedachte sie mit einem seltsamen Blick.
Anna bekam eine Gänsehaut und wusste nicht, warum.
Später saßen sie in dem Restaurant, vor dem Achim den Wagen geparkt hatte, und aßen Momos und Tütennudelsuppe, mehr gab die Küche nicht her. »Schlechte Zeiten«, hatte die Wirtin gejammert, »es kommt ja kaum noch jemand hier herauf.«
Anna schmeckte es trotzdem, und auch Achim mäkelte nicht. »Auf dem Treck freuen wir uns über so etwas«, sagte er augenzwinkernd und schlürfte seine Suppe. »Immerhin wärmt sie von innen.«
»Ich möchte dich noch etwas fragen. Es ist mir vorhin eingefallen.«
»Schieß los.«
»Ich hatte dir doch von dem seltsamen Heiligen erzählt.«
Achim nickte. »Dem Herrn der Vögel.«
»Dass er meinen Vater gekannt hat, habe ich dir auch berichtet. Aber da ist noch etwas, was mir im Kopf herumschwirrt. Er erwähnte einen Mann, der angeblich mehr über meinen Vater weiß, allerdings würde dieser Mann in einem Bergversteck hausen. So zumindest habe ich den Sadhu verstanden. Und – er nannte ihn den Pangje. Die Schweizer wiederum hatten auf dem Annapurna-Rundweg eine unheimliche Begegnung.«
Achim hob die Hände. »Stopp! Ich bin wirklich erstaunt, wie schnell die Gerüchte bei dir angelangt sind«, sagte er lachend. »Die Schweizer hatten also eine Begegnung der dritten Art?«
»Es scheint so.«
»Dann sind sie einem begabten Geschichtenerzähler aufgesessen. Was mich hingegen nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass der Herr der Vögel diesen Schneeleoparden kennen will.«
»Diesen Schneeleoparden? Der Herr der Vögel sagte ›Pangje‹.«
»Das ist ein und dasselbe. ›Pangje‹ bedeutet ›Schneeleopard‹ in der Sprache der Menschen in Mustang und Manang.«
»Ach so. Was weißt du über den Pangje? Und was verbindet diesen Mann mit meinem Vater?«
»Deine zweite Frage kann ich beim besten Willen nicht beantworten. Es ist möglich, dass er Moon über den Weg gelaufen ist und durch ihn von Sylvain erfahren hat. Ansonsten kenne auch ich nur Gerüchte, aber sie halten sich hartnäckig: Er soll ein Wilderer sein, in ganz großem Stil. Mit seinen Spießgesellen macht er seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten die Berge und auch die Nationalparks im Süden unsicher. Die Bande tötet alles, was selten und wertvoll ist: Schneeleoparden, Blauschafe, Argalis, Tiger, Nashörner, Tibetantilopen. Aber obwohl es ein sehr lukratives Geschäft sein muss, verkriecht sich der Mann irgendwo in der Abgeschiedenheit der Hochtäler. Niemand kennt sein Versteck, niemand weiß, wie er aussieht, aber alle haben Angst. Ich nehme an, er selbst
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