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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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vorstellen? Annapurna.«
    Annas Herz machte einen Sprung. Hier wohnte sie also, ihre Namenspatronin. Ein prächtiger Wohnsitz, dachte sie und nickte grüßend zu dem ehrfurchteinflößenden Gebirgsstock mit seinen Dutzenden und Aberdutzenden Gipfeln. Plötzlich musste sie lachen. Wie war ihre Mutter bloß auf die Idee gekommen, ihre winzige Tochter ausgerechnet nach etwas so Erhabenem und Großartigem zu benennen?
    »Und das dort ist Dhaulagiri«, fuhr Achim fort und wies auf das Gebirge weiter zur Linken. »Ebenso wie Annapurna ragt sein Hauptgipfel über achttausend Meter in den Himmel. Und noch ein Superlativ: Das Tal zwischen den beiden Massiven ist das tiefste der Welt. Und genau dort fliegen wir jetzt hinein.«
    Anna kam aus dem Staunen nicht heraus. Sobald sie das Tal erreicht hatten, türmten sich die Berge zu beiden Seiten immer höher, und sie musste sich vorbeugen und den Kopf in den Nacken legen, um ihre Spitzen sehen zu können. Sie flogen mit einem Abstand von höchstens zweihundert Metern an einem gewaltigen Gletscher vorbei, an unbezwingbaren Felswänden, während sich im Tal die Wasser des jungen Kali Gandaki mit wilder Kraft einen Weg fraßen. In den ersten Minuten bedeckte erstaunlich üppige Vegetation das Tal und die Hänge, dann lösten immer spärlicher wachsende Sträucher die Bäume ab, bis sie schließlich in eine Welt aus Steinen hineinflogen. Das Tal wurde weiter, und Braun und Grau wurden die vorherrschenden Farben. Hier und da ein Dorf, ebenfalls aus Stein errichtet, umgeben von winzigen Feldern. Als die Landepiste von Jomsom in Sicht kam, schickte der Pilot Anna und Achim zurück in die Kabine. Auf seinem Gesicht lag ein wissendes Lächeln, und Anna lächelte zurück. Sicher war sie nicht die erste verzückte Passagierin, der er einen Blick auf diese Wunder ermöglicht hatte.
    Sie setzten mit allerhand Geruckel auf der kurzen Piste auf, und wenige Minuten später stand Anna im Freien. Ein heftiger Wind aus dem Tal zerrte an ihren Haaren, trieb Staub und Sand vor sich her und verlieh der Umgebung den trostlosen Charme einer Wildweststadt aus den Filmen der 1950er Jahre. Sie zog eine Mütze über den Kopf. »Was für ein Wind!«
    Achim lachte. »Das ist noch gar nichts«, sagte er. »Nach dem Mittagessen wird es schlimmer.«
    »Wie kannst du das so genau wissen?«
    »Weil jeden Tag das Gleiche passiert. Es ist ein lokales Phänomen, über das sich die Wetterfrösche schon lange die Köpfe zerbrechen. Wegen des Windes mussten wir auch so früh starten: Die Flugzeuge können nur bis zum Mittag in Jomsom landen. Außerdem ist er einer der Gründe, warum wir heute Nacht hierbleiben. Es ist verflixt unangenehm, in dem Sturm zu wandern, gerade auf dem ersten Abschnitt von hier aus. Wir nutzen besser die frühen Morgenstunden, wenn der Wind noch relativ harmlos ist.«
    »Du sagtest ›Gründe‹?«
    »Ich möchte, dass wir uns wenigstens eine Nacht akklimatisieren, immerhin sind wir eben auf fast dreitausend Meter Höhe gehüpft. Außerdem werde ich noch einige Träger rekrutieren. Aber jetzt komm.«
    Die beiden mitgereisten Träger aus Kathmandu waren mittlerweile mit dem Entladen des Gepäcks fertig, schulterten einen Teil der schweren Kiepen und Taschen und begaben sich über die Rollbahn zu dem winzigen Abfertigungsgebäude. Anna und Achim nahmen ihre Rucksäcke und folgten ihnen. Obwohl vor allem der eine der beiden Träger recht kräftig wirkte, fragte sich Anna, wie es ihm möglich war, das enorme Gewicht zu tragen. Sie war froh, dass Achim noch weitere Träger anheuern wollte.
     
    Etwa zwei Stunden nach dem morgendlichen Aufbruch aus Patna, irgendwo zwischen Muzaffapur und Birganj, inmitten brettebener, hellroter Felder und ärmlicher Dörfer, stoppten Polizisten den Bus und verhafteten den Busfahrer. Kim blickte fassungslos der Staubwolke des entschwindenden Polizeiautos nach und wusste nicht, ob er schimpfen oder lachen sollte. Da hatte er Anna gepredigt, sie solle die Dinge nehmen, wie sie kommen und ein wenig mehr Gelassenheit an den Tag legen, und nun stand er hier und wollte am liebsten jedem einzelnen seiner Landsleute in den Allerwertesten treten. Wenn er geahnt hätte, wie sich die Reise entwickelte, hätte er besser auf einen Direktflug von Kalkutta nach Kathmandu gewartet.
    Für einen Moment verstummten auch die anderen Passagiere des Fernbusses, nur um ihrem Ärger wenig später umso lauter Luft zu machen. Niemand wusste, warum man ihnen den Busfahrer entführt hatte. Die

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