Im Tal des Schneeleoparden
Steine im Überfluss wuchsen und robuste Pferde standen, die sich von ebendiesen Steinen zu ernähren schienen. Eine Reihe von etwa mannshohen, kubischen Bauwerken erregte Annas Aufmerksamkeit. Aus grob behauenen Steinen gefügt, zum Teil mit weißem und orangefarbenem Lehm verputzt, wirkten sie primitiv und würdevoll zugleich.
»Das sind die kleinen Geschwister der großen Stupas, die du in Kathmandu gesehen hast. Man nennt sie Tschörten«, erklärte Achim. »Viele der hier lebenden Menschen sind Buddhisten oder glauben an eine Mischform aus Buddhismus, Hinduismus und Schamanismus. Die Tschörten halten das Böse von den Dörfern fern. Wenn du sie umrundest, erweist du dem Buddha und allen anderen Göttern, Geistern und Dämonen die Ehre, die hier oben das Sagen haben.« Er machte eine auffordernde Handbewegung.
Anna ließ sich nicht zweimal bitten und ging um den größten der Tschörten herum. Es konnte nicht schaden, zumal sie bereits an ihrer Bergtauglichkeit zweifelte. Das Atmen war beschwerlich, der Rucksack drückte schon jetzt wie ein Zementsack auf ihre Schultern, und die Landschaft flößte ihr in all ihrer grandiosen Kargheit Angst ein, obwohl Achim versichert hatte, dass sie heute lediglich drei oder vier Stunden laufen und dabei keine nennenswerten Steigungen bewältigen mussten. Sie würden sich die meiste Zeit durch den beinahe ebenen Talgrund bewegen und nur dann auf die Pfade an den Flanken der ockerfarbenen Berge ausweichen, wenn der Fluss sie dazu zwang. Anna rückte den Rucksack zurecht, atmete tief durch und beschleunigte ihre Schritte, um zu Achim aufzuschließen. Wie peinlich wäre es, jetzt schon schlappzumachen!
Kim hatte es mit seinem Nachtquartier wesentlich schlechter getroffen als Anna. Scharen von Bettwanzen waren in der Nacht über ihn hergefallen, und die Luft in der schmutzigen Grenzstadt Raxaul, die er gegen alle Wahrscheinlichkeit noch spät am gestrigen Abend erreicht hatte, schmeckte nach den Dieseldämpfen der vorbeidonnernden Lastwagen. Kim war heilfroh, das Hotel beim ersten Grauen des Tages verlassen und die Grenze nach Nepal überschreiten zu können.
Und während Anna die ersten Schritte nach Norden wagte, ließ sich Kim erleichtert auf dem Sitz neben dem Fahrer eines Privatautos nieder, der ihn und zwei amerikanische Touristen nach Kathmandu fahren würde. Der Preis für den Transfer lag zwar erheblich höher als der für ein Busticket, aber die Reise von Kalkutta bis Raxaul hatte Kim zermürbt. Zur Feier seines neuen Jobs durfte er sich einen derartigen Luxus durchaus gönnen. Außerdem konnte er es kaum erwarten, Anna zu sehen: Wenn alles gutging, würde er statt am späten Abend schon am frühen Nachmittag in Nepals Hauptstadt eintreffen.
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51
E r ist aufgewacht, und ich glaube, er will reden. Kommt schnell!«, rief Tara in den Wohnraum und machte wieder kehrt. Sie durfte den Kranken keine Sekunde länger als nötig allein lassen, keines seiner Worte versäumen.
Tara saß schon wieder am Bett des Mannes, als Achal und Sarungs Mutter hereinstürzten und sich auf der Kante des zweiten Betts niederließen. Angespannt beobachteten sie jede Regung im noch immer geschwollenen und mit dunklen Blutergüssen entstellten Gesicht ihres Schützlings. Würde er sprechen? Schon gestern hatte er es versucht, aber die gelallten Satzfragmente ergaben keinen Sinn. In den Augen des Verletzten hatten sie die Verzweiflung über seine Sprachlosigkeit ablesen können. Bald war er wieder in Schlaf gesunken, und diese Nacht hatte er zum ersten Mal durchgeschlafen, ohne zu stöhnen und zu schwitzen. Sie hegten die Hoffnung, dass das Schlimmste überstanden war.
Tatsächlich versuchte er sich an einem Lächeln. Tara ergriff seine Hand und drückte sie vorsichtig. »Seien Sie willkommen, heiliger Mann.«
Der Mann öffnete den Mund, räusperte sich, bewegte seinen Kiefer. Es schien ihm Mühe zu machen, doch dann erklang seine Stimme, noch rauh und schleppend, aber verständlich: »Hab Dank. Wer seid ihr? Wo bin ich? Bin ich doch nicht tot?« Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Du bist das Mädchen mit dem prächtigen Hund«, stellte er fest.
Tara lachte befreit auf. Wenn sich der Mann an eine derart unwichtige Kleinigkeit erinnerte, würde auch alles andere nicht vergessen sein. »Mein Hund ist hier«, sagte sie. »Unter Ihrem Bett. Er weigert sich, Sie unbewacht zu lassen.« Sie nahm seine Hand und legte sie auf den Kopf des Hundes. Der Sadhu kraulte das Tier und
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