Im Tal des Schneeleoparden
Warum war der Mann bewaffnet? Achim hatte doch gesagt, für ihre Gruppe bestünde keine Gefahr von Seiten der Rebellen. Wusste vielleicht auch Achim nichts von dem Gewehr, handelte der Mann auf eigene Faust? Sie starrte noch immer auf die Waffe, als ein Blick des Trägers sie traf. Er realisierte, worauf ihre Aufmerksamkeit gerichtet war, und verbarg hastig das Gewehr. Wieder sah er Anna an, und ihr lief es kalt den Rücken herunter. Obwohl sie erst seit zwei Stunden unterwegs waren, hatte sie bereits genügend von den Trägern mitbekommen, um sich Sorgen über ihre und Achims Sicherheit zu machen. Von ihren sechs Begleitern empfand sie den kräftigen als den unangenehmsten, doch auch die anderen Männer waren ihr nicht geheuer. Sie hatte die Nepalesen bisher als freundliche, zuvorkommende Menschen erlebt, die selten die Stimme erhoben, doch diese Gruppe trampelte grob und laut durch das Tal und scherte sich nicht um die einheimischen Wanderer. Andererseits wirkten sie sehr vertraut mit der Umgebung, was für Achim den Ausschlag gegeben haben mochte, sie anzuheuern.
Anna wandte sich von dem Kräftigen ab und langte nach ihren Wanderschuhen, die sie in der Pause von den Füßen gestreift hatte. Sie hatte Achims Rat beherzigt und zwei Paar Socken übereinandergezogen, damit Socke an Socke scheuerte und nicht an ihrer Haut, weshalb sich tatsächlich keine Blasen ankündigten. Trotzdem erwies sich das Gehen auf den großen Steinen im Flussbett als beschwerlich und belastete die Knie, während die Pfade an den Berghängen zwar einen vergleichsweise glatten Untergrund boten, dafür aber wesentlich mehr Aufs und Abs. Sie war noch nicht ausreichend akklimatisiert und hatte Achim gebeten, die Nacht im nächsten Dorf verbringen zu dürfen, und nicht wie geplant im übernächsten. Er hatte eingewilligt, wenn auch ungern. Als Anna fragte, was gegen das Dorf spräche, hatte er nur abgewinkt und gemeint, es wäre schon in Ordnung.
Überhaupt erwies sich Achim seit dem Abmarsch aus Jomsom im Gegensatz zu seiner bisherigen Redseligkeit als maulfaul und blieb für sich. Anna schob es auf die Anstrengungen des Marsches – auch sie hatte keine Luft zum Reden zu verschwenden, und Achim war immerhin schon einundsechzig Jahre alt. Ihre Stiefel lenkten sie vom Grübeln ab: Sie mussten im Laufe der einstündigen Rast um mindestens zwei Nummern geschrumpft sein.
»Behalte sie bei der nächsten Rast besser an.«
Anna sah auf. Achim hatte sich neben ihr niedergelassen und half ihr mit dem Schnüren der Senkel. Nachdem alles saß, wie es sitzen sollte, richtete er sich wieder auf. »Du hältst dich gut«, bemerkte er. »Ich habe doch geahnt, dass du zäher bist als deine Mutter.« Ein breites Lachen erschien auf seinem Gesicht, so freundlich und ermutigend, dass sich Anna für ihre Sorgen und Zweifel schämte. Also war seine Schweigsamkeit und Ruppigkeit tatsächlich auf den Marsch zurückzuführen. »Das mag sein, aber ich bin trotzdem kaputt. Ich habe nie zuvor eine solche Wanderung gemacht. Ist es denn noch weit bis Kagbeni?«
Achim schüttelte den Kopf. »Steh auf«, forderte er sie auf und wies talaufwärts. »Siehst du den roten Fleck?«
Anna blinzelte. Braun-gelbe Berghänge schoben sich Kulissen gleich in das Tal. Davor entdeckte sie mehrere sich bewegende dunkle Punkte, Menschen wohl, oder Pferde oder Dzos, eine Kreuzung aus Yak und Rind. Und einen roten Punkt auf einer Klippe. »Das Dorf?«
»Ja. Das rote Gebäude ist das Kloster. Ich denke, in einer Stunde sollten wir dort sein, aber wir brauchen uns nicht zu beeilen. Ich schicke die Träger vor, damit sie nicht ungeduldig werden.«
»Ungeduldig? Achim, die Männer sind mir unheimlich. Einer von ihnen führt sogar ein Gewehr mit sich! Wusstest du davon? Er hat sehr heimlich damit getan.«
»Oh. Ich hatte gehofft, du würdest es nicht entdecken.« Achim streifte die Träger mit einem verärgerten Seitenblick. »Ich wollte dich nicht unnötig beunruhigen. Natürlich wusste ich davon, ich habe die Gewehre ja mitgebracht, weil ich es trotz allem für besser halte, wenn wir wehrhaft sind. Auch wenn ich nicht glaube, dass uns etwas passiert, so sind es doch unruhige Zeiten.«
Obwohl Anna auf Achims Drängen hin ihren Rucksack einem der Träger aufgebürdet hatte, benötigten sie dann doch weit mehr als eine Stunde. Achim fand zu seiner guten Laune zurück und wies Anna auf interessante Felsformationen hin, hielt ihr einen amüsanten Vortrag über die Entstehungsgeschichte des
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