Im Tal des Schneeleoparden
ein Lager gebaut und dem Heulen des Sturms gelauscht, der seine Kraft an den grob gefügten Steinwänden maß und Schneewehen in die türlose Eingangsöffnung häufte. Es wurde schlagartig bitterkalt, und sie kauerten wie Tiere dicht beieinander, um sich gegenseitig zu wärmen, bis sie endlich einer nach dem anderen in einen unruhigen, von lebhaften Träumen durchwebten Schlaf fielen. Irgendwann in der Mitte der Nacht ebbte der Zorn des Sturms ab, und Sylvain erwachte. Nachdem er sich orientiert hatte, schlüpfte er leise unter seinem Bhakhu hervor und ging zum Eingang.
Die vormals braungraue Welt war unter einem weißen Fell verschwunden, und aus dem Weiß starrte der See wie ein lidloses schwarzes Auge, den Blick in den Himmel gerichtet, an dem Millionen von Nadelstichen das dunkelblaue Firmament durchbohrten. Sylvain holte tief Luft. Niemals zuvor hatte er etwas zugleich so Großartiges wie Einschüchterndes gesehen. Er bemerkte, dass der See nicht schwarz war, nein, die Reflexionen der Sterne sprenkelten seine stille Oberfläche wie den kostbarsten aller Teppiche, und eine Borte aus weißen Bergspitzen schmückte die nördliche Wasserkante, perfekte Abbilder der ihn überragenden Gipfel.
Am anderen Ufer rührte sich etwas. Sylvain fröstelte. Was schlich dort am Ufer entlang, kaum mehr als ein Schatten, der für einen Sekundenbruchteil durch sein Blickfeld geflossen war? Er kniff die Augen zusammen, doch obwohl sich jedes Wesen von dem Schnee hätte abheben müssen wie eine Tuschezeichnung von Papier, konnte er nichts erspähen. Kein Tier, keinen Menschen, keine Pflanze. Er blieb draußen stehen, bis seine Füße beinahe gefühllos geworden waren, dann zog er sich in den dürftigen Schutz der Steinhütte zurück und schlüpfte unter den Bhakhu. Kurz darauf war er eingeschlafen, und diesmal träumte er nicht.
Der nächste Morgen verlief schweigsam, als herrsche zwischen den drei jungen Männern ein stummes Übereinkommen, den Zauber nicht zu brechen, den reinen Schnee nicht zu beschmutzen. Während des kargen Frühstücks aus eiskaltem Seewasser, Winteräpfeln und Buchweizenkringeln erinnerte sich Sylvain an den Schemen am See. Sobald er zu Ende gegessen hatte, schlenderte er zur Wasserkante hinunter und setzte sich dann zum jenseitigen Ufer in Bewegung, das er nach etwa einer Viertelstunde erreichte. Er heftete die Augen auf den Schnee. Wenn er sich die Bewegung nicht eingebildet hatte und das Wesen aus Fleisch und Blut gewesen war, musste es Spuren hinterlassen haben. Langsam legte er etwa hundert Meter zurück und hatte die Hälfte seiner Runde um den See schon hinter sich, als einige dunkle, eine Linie bildende Punkte seine Aufmerksamkeit erregten.
Die Stapfen bildeten stark verwischte, beinahe zwei Hände große Mulden. Der lose Schnee war an den Rändern eingebrochen und machte es unmöglich, Details zu erkennen, trotzdem glaubte Sylvain eine Ähnlichkeit mit Katzenspuren zu erkennen. Dem Abstand der einzelnen Spuren nach zu urteilen, war eine Katze von über einem Meter Körperlänge letzte Nacht am See gewesen. Unbehaglich blickte Sylvain über seine Schulter. Er kauerte völlig schutzlos und, insbesondere für die scharfen Augen einer Raubkatze, gut sichtbar auf einem weiten Schneefeld. Deckung gab es nicht, allerdings auch nicht für das Tier, wie er beruhigt feststellte. Mit neuem Mut begann er, der Spur zu folgen, die ihn zuerst zum Wasser führte, wo die Katze wahrscheinlich gesoffen hatte, und dann zurück über den Wall, der die Senke nach Süden hin abschloss und ein natürliches Becken für den See schuf. Hier hatte das Tier verharrt und – Sylvains Herz setzte für einen Schlag aus – war dann schnurstracks, immer die Deckung des Walls ausnutzend, zur Hütte gelaufen. Noch etwas fiel ihm auf, als er, immer schneller werdend, in der Fährte des Raubtiers lief und die Spuren zertrat: Die Spuren wirkten auf seltsame Art unregelmäßig. Sylvain hatte keine Erfahrung im Spurenlesen und hätte nicht zu sagen vermocht, welcher seiner Läufe verkrüppelt war, doch in einem war er sich sicher: Das Tier hinkte.
Etwa siebzig, achtzig Meter vor der Schutzhütte hatte sich die Katze hinter einem niedrigen Felsblock versteckt, wo der Schnee auf einem kissengroßen Fleck getaut und dann wieder überfroren war. Sylvain stellten sich die Nackenhaare auf. Das Raubtier musste lange an dieser Stelle auf der Lauer gelegen, ihn beobachtet haben, und er hatte es nicht bemerkt! Schwer atmend stützte er
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