Im Tal des Schneeleoparden
unverletzlich.
Etwa zwanzig Meter von dem Abgestürzten entfernt stockte Jampa der Atem. Mit einer Handbewegung hielt sie die Männer auf.
»Seht nur. Die Spuren. Was ist dort passiert?« Obwohl das Klettern sie erhitzt hatte, spürte Jampa einen kalten Schauder über ihren Körper jagen. Niemals zuvor hatte sie derartige Spuren gesehen. Auch Namka und Dadul starrten ratlos auf das Schneefeld vor ihnen.
Nach den Abdrücken zu urteilen, hatte sich ein Schneeleopard mit verkrüppelter linker Hinterpfote dem Abgestürzten genähert, ihn einmal umkreist und sich dann neben ihm niedergelassen. Eine tiefe Mulde neben dem reglosen Körper ließ darauf schließen, dass sich das Tier lange dort aufgehalten hatte. Am meisten beunruhigte die drei jungen Menschen jedoch das Fehlen von fortführenden Spuren. Der Pangje war gekommen, aber niemals wieder gegangen.
»Wo ist er?«, flüsterte Jampa. »Meint ihr, er ist der Mann? Ist er einer von jenen, die sich verwandeln?«
»Ich glaube, schon«, antwortete Namka ebenso leise. »Wo sonst sollte der Pangje nun sein, wenn nicht im Körper des Mannes?«
»Und was tun wir jetzt?« Die drei sahen sich an, Ehrfurcht spiegelte sich in ihren Mienen. Schließlich brach Dadul den Bann. »Gleichgültig, ob Mensch oder Schneeleopard, wenn er noch lebt, müssen wir ihm helfen.«
Der Mann war dem Tod näher als dem Leben, doch sie scheuten keine Mühe, ihn zu retten. Ihre Pilgergruppe umfasste drei Frauen und sieben Männer, und so wechselten sie sich ab, ihn zu tragen, bis sie ins nächste Dorf kamen, wo sie eine Kiepe erstanden, ihn daraufbanden und weitereilten, Tag um Tag, Nacht um Nacht. Der seltsam hellhäutige Mann schwebte noch immer im Zwischenreich. In Dharapani, schon auf dem Weg zum Thorung-La, fanden sie einen Schamanen und Heilkundigen, der dem Mann die erfrorenen Zehen des linken Fußes amputierte. An jenem Abend öffnete er zum ersten Mal die Augen. Hellgrüne Augen.
Schneeleopardenaugen.
Mit größtem Respekt kümmerten sie sich um den nach wie vor meist besinnungslosen Mann und brachten ihn in ihr Dorf. Jampa übernahm die Pflege. Auch wenn sie ihr Leben lang davon überzeugt bleiben würde, dass sich ihr Gatte nach Belieben in das Phantom der Berge verwandeln konnte, entwickelte sie vor allem Interesse an seiner menschlichen Erscheinung. Niemand wunderte sich oder erhob Einspruch, als sie eines Tages verkündete, dass sie ihn, der schon lange kein Fremder mehr war, heiraten würde.
Sylvain wusste nichts von ihren Plänen, denn noch beherrschte er ihre Sprache nicht. Wohl bemerkte er Jampas Blicke, manchmal herzlich oder nachdenklich, wohl auch spöttisch, aber immer voller Wärme, doch er deutete die Zeichen falsch. Er hatte eine Freundin, wollte keine andere als Babsi, und sehnte den Tag herbei, an dem er zu ihr zurückkehren konnte. Die Vorstellung, dass sie ihn für tot hielt, war ihm unerträglich, die Qualen, die ihm den Schlaf raubten, nahmen sich banal aus gegen jene, die sie durchleiden musste. Seine Versuche, einen Boten nach Kathmandu zu senden, scheiterten an der Sprachbarriere, und er selbst würde Monate brauchen, bis er wieder weit genug hergestellt war, sich den Strapazen eines langen Fußmarsches auszusetzen. Er saß fest, ein Gefangener in einem Dorf, in dem ihm nichts als Freundlichkeit entgegenschlug.
Es dauerte über ein Jahr, bis er wieder gehen konnte. Gehen? Humpeln eher, ein mühsames, langsames Humpeln war ihm geblieben, wo er vorher auf zwei gesunden Füßen die Welt erobert hatte. Er kämpfte, erweiterte jeden Tag den Radius um sein Refugium, bis er endlich die Grenzen des Dorfes überschreiten und das Tal erkunden konnte. Jampa feuerte ihn an, die einhundertacht Zöpfe ihrer Haartracht wirbelten um ihr rundes Gesicht, und die schmalen Lider schluckten ihre Augen, so sehr lachte sie, wenn er sich tapsig über die Stufen quälte, die statt Gassen die Häuser miteinander verbanden. Er war ihr nie böse.
Die Zeit tat ihre Wirkung. Noch zermürbten ihn die Nächte, in denen ihn die Sehnsucht nach Babsi und düstere Rachegedanken quälten. Nie würde er Achims Gesicht vergessen, als dieser ihm beinahe beiläufig erklärt hatte, warum er nun sterben musste, nie seine Todesangst.
Doch die Tage wurden lichter, und bald fühlte er sich in dem engen Tal zwischen den gelben Bergen unter einem immer blauen Himmel zu Hause. Er genoss es, sich mit eiskaltem Wasser zu waschen, und gewöhnte sich an die eintönige Kost aus Buchweizenfladen und
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