Im Tal des Schneeleoparden
hatte seine Deckung verlassen.
»Was war das?« Achim, der bisher auf dem Feldbett neben Tara geruht hatte, fuhr mit einem Ruck auf.
Tara lag stocksteif und lauschte ebenfalls. Es war nicht viel mehr als ein Windhauch gewesen, ein Schwirren und Schaben, doch die Nacht war so still, dass man den Flügelschlag eines Vögelchens gehört hätte. Da! Wieder drangen Geräusche durch die Nacht. Jemand schnaufte. Ein unterdrückter Aufschrei.
Und dann knallte ein Schuss, hallte von den Bergen wider, ein zweiter, ein dritter, ein Mensch schrie seinen Schmerz hinaus. Jemand brüllte einen Befehl, Männer stürzten sich aufeinander. Tara bäumte sich auf, versuchte zum Sitzen zu kommen, doch die Decke zwang sie zurück. Sie strampelte, schrie nun ebenfalls, wollte kein Treibholz in einem Strudel sein, wollte nicht machtlos und handlungsunfähig hier verrecken! Mit einem Ruck löste sich die Decke, und Tara schwang die gefesselten Beine auf den Boden, bevor Achim sie daran hindern konnte. Eine Pistole in der Rechten haltend, stand er mit dem Rücken zu ihr, und sie nutzte ihre Chance. Mit aller Kraft drückte sie sich vom Boden ab und stieß ihm den Kopf in den Rücken. Er strauchelte, konnte sich abfangen und wirbelte herum. Im nächsten Moment hatte er Tara niedergeworfen und drückte ihr den Pistolenlauf gegen die Brust.
»Du willst sterben?«, knurrte er. »Bitte, ich kann dir dabei helfen.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
Er hat gewonnen, dachte Tara. Am Ende gewinnt immer das Böse. Während um sie herum der Kampf tobte, laut, gewaltsam, bösartig, erfasste bodenlose Traurigkeit ihr Herz, schwemmte durch ihren Körper und ließ sie schlaff werden. Sie wollte so gern leben. Wollte die guten Zeiten anbrechen sehen in Raato Danda, Zeiten ohne Geheimnisse. Wollte Sapana in die Arme schließen, und Sarung. Mit einem leisen Klicken löste Achim die Sicherung der Pistole. Tara wartete ergeben auf den Knall.
Er kam nicht. Bevor Achim abdrücken konnte, riss einer der Kämpfenden die Zeltplane beiseite. Eine Stimme donnerte: »Lass das Mädchen in Ruhe!«
Achim fuhr auf.
Der Mann im Eingang hob sich schwarz gegen das kaltgraue Licht des gerade erwachenden Tages ab. Auch er hielt eine Waffe in den Händen, ein Gewehr, das direkt auf Achims Kopf zielte. »Steh auf.«
Achim erhob sich langsam, die Pistole noch immer auf Tara gerichtet.
»Wie immer stehst du auf der Verliererseite«, sagte er kalt. »Zauberei hilft dir jetzt nicht mehr weiter. Wenn du auf mich schießt, stirbt auch das Mädchen. Du weißt, dass ich nicht bluffe.«
»Das weiß ich«, sagte der Mann, ohne sich zu rühren.
»Dann lass die Waffe fallen, Sylvain.«
Das Echo der Schüsse brach sich an den Felsen, rollte durch die Täler und Rinnen und erreichte Kim wenige Sekunden später. Erst glaubte er an ein Gewitter, doch keine noch so kleine Wolke hob sich von der dunkelgrauen Leere des Morgenhimmels ab. Nur langsam begriff Kim, dass er den Nachhall eines Kampfes hörte. Der Sadhu hatte sein Versprechen eingelöst und Hilfe herbeigeholt. Kim fragte sich bange, was gerade geschah. Schüsse bedeuteten Tod, Blut, Gewalt, etwas, was ihm das Leben bisher erspart hatte. Er schauderte. Trotz der gewaltsamen Befreiung von Sapana war ihm die ganze Situation bisher seltsam irreal erschienen, wie ein Alptraum, ein Missverständnis. Doch die Schüsse waren real. All dies passierte. Menschen starben. Und Anna schwebte in Lebensgefahr. Mit Tränen in den Augen stolperte er weiter, ließ sich von seinen Füßen leiten, wie der Herr der Vögel ihm geraten hatte, und fand sich wenig später an der Abbruchkante eines Tals wieder. Just in diesem Moment stieg die Sonne über die Berggipfel und übergoss die braun-gelbe Wüstenei mit brillantem Licht.
Kim blieb stehen und orientierte sich. Das Tal senkte sich sanft nach Osten ab, und der Boden sah begehbar aus. Jetzt, mit dem ausgetrockneten Wasserlauf, bildete der Talboden einen natürlichen Weg zum Haupttal und damit in die Sicherheit der Dörfer. Ob Anna hier entlanggekommen war? Ob sie dieselben Schlussfolgerungen gezogen hatte? Kim spähte das Tal hinab und verzweifelte einmal mehr daran, keinen Feldstecher mit sich zu führen. Seinem bloßen Auge präsentierte sich das Flusstal ohne Leben, doch sicher sein konnte er nicht. Meter für Meter tastete sich sein Blick an den Talwänden entlang. Eine bizarre Felsformation etwas bergauf fesselte seine Aufmerksamkeit. Die Erosion, die große Weltenbildhauerin,
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