Im Tal des Schneeleoparden
Kampfes hatte ihn in die Brust getroffen. Neben ihm krümmte sich sein Mörder, aus mehreren Messerwunden blutend, die Hand noch immer um sein Gewehr gekrampft. Der Pangje trat zu ihm und entriss ihm die Waffe.
Und dann sah er Jampa.
Sie lag bäuchlings auf der Erde, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Völlig von Sinnen stürzte der Pangje zu ihr, brach in die Knie, horchte in der tödlichen Stille auf ihre Atemzüge, doch vergeblich. Eine kleine, reglose Hand ragte unter ihrem Körper hervor. Mit fliegender Hast hob der Pangje ihn an und fand Dzangbu, wachsbleich, mit geschlossenen Augen.
Der Schrei, der sich aus seiner Brust Bahn brach, war nicht menschlich. Schrill und gequält flog er in den Himmel, echote von den Felsen und füllte die Welt. Er riss die Überlebenden aus ihrer Starre, bis einer nach dem anderen einstimmte und die Berge von Trauer und Verzweiflung widerhallten.
Dzangbu kam wenige Minuten später wieder zu sich. Noch wusste er nicht, dass der Hieb eines Gewehrkolbens den Kopf seiner Mutter zertrümmert hatte, als sie sich schützend über ihn warf. Der Pangje hielt seinen zitternden Sohn im Arm und wiegte ihn. Tränen rannen ihm über die Wangen und durchnässten seinen Mantelkragen.
Irgendwann hockte sich Dölkar neben ihn. »Gib mir das Kind«, sagte sie sanft. »Geh zu den anderen und sieh, was sie gefunden haben. Es ist wichtig.«
Fast alle aus der Gruppe hatten im Kampf Verletzungen davongetragen, jedoch keine schweren, und so hatten sie sich das zurückgelassene Gepäck der geflüchteten Männer angesehen, um herauszufinden, warum sie zum Morden bereit gewesen waren. Was sie entdeckten, verstörte sie zutiefst.
Sie hatten einen Kreis gebildet, zu dem der Pangje nun stieß. Im Mittelpunkt des Kreises lag eine tote Schneeleopardin. Sie war nicht erschossen worden, sondern vergiftet, um ihren prächtigen grau-weißen Pelz nicht zu versehren. Der Pangje hatte die Männer überrascht, als sie gerade dabei waren, dem Tier das Fell abzuziehen. Neben dem grässlich anzusehenden Kadaver der Leopardin lag ihr Junges. Der Atem des Leopardenkindes war flach, wahrscheinlich hatten die Wilderer es betäubt. Der Pangje schätzte den jungen Schneeleoparden auf etwa vier Monate. Er war bereits ziemlich groß und schwer, aber der Pangje wusste, dass er noch mindestens bis zum nächsten Sommer bei der Mutter hätte bleiben müssen, um alles Notwendige für das Überleben in den unwirtlichen Höhen der Berge zu lernen.
Plötzlich kniete sich Dadul neben die Leopardin und hob ihren linken Hinterlauf an. »Seht nur!«
Die Pranke war völlig verkrüppelt. Alle Zehen fehlten, als seien sie abgebissen worden – oder von einer Tellerfalle abgetrennt. Sprachlos starrten die Menschen auf die alte Verletzung und dann auf den Pangje.
»Sie ist es. Diese Leopardin hat dir damals das Leben gerettet«, flüsterte Dadul schließlich.
Alles drehte sich. Der Pangje taumelte, und hätten ihn nicht zwei seiner Freunde unter den Achseln gepackt, wäre er zu Boden gestürzt. Alle, denen er sein Leben verdankte, waren tot: seine Frau, sein Freund, die Leopardin. Die Schrecken des Tages nahmen kein Ende.
Sie verließen den Platz der Katastrophe noch am selben Tag. Die Leichen Jampas und Namkas wickelten sie in Decken und banden sie auf zwei der Pferde, ebenso das noch immer bewusstlose Schneeleopardenmädchen. Auch das Fell des Muttertiers trugen sie mit sich, damit es nicht in die Hände der Wilderer fiel. In ihren Herzen herrschte unermessliche Trauer, doch schon jetzt züngelten die Flammen des Hasses und der Rache, die sich erst in vielen Monaten einen gleichberechtigten Platz neben der Trauer erobern würden.
Jahre vergingen. Die seelischen Wunden verheilten nie, weder beim Pangje noch bei den anderen Dorfbewohnern. Mit Jampa und Namka waren nicht nur Frau und Freund, sondern Tochter, Mutter und Tante, Sohn, Ehemann und Vater gestorben, jeder Einzelne im Dorf hatte einen fürchterlichen Verlust zu beklagen. Vielleicht wären sie eines Tages darüber hinweggekommen, hätte nicht der verletzte Wilderer ihnen den Namen seines Herrn verraten: Achim Bendig.
Er war der Drahtzieher hinter dem Geschäft mit den toten Tieren, Mastermind einer großen Organisation. Auf diesen Mann fokussierte sich fortan ihre Wut, diesen Mann wollten sie zur Rechenschaft ziehen. Mehrmals versuchten der Pangje, Dadul und später auch sein Sohn Dzangbu in den kommenden Jahren, zu Achim Bendig vorzudringen, doch er wurde
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