Im Tal des Schneeleoparden
durcheinanderzuwirbeln. Während er in einem Restaurant dem Geschwätz der westlichen Besucher lauschte, erkannte der Pangje plötzlich mit überwältigender Klarheit, dass ihn Babsis Welt nicht mehr interessierte. Er würde in Nepal leben. Er würde Jampa heiraten.
Er blieb trotzdem zwei Wochen in Kathmandu, zu viel war zu erledigen. Seine Eltern waren verunglückt, bevor er die Schule beendet hatte, und nun musste er einen Weg finden, von Nepal aus Zugang zu seiner nicht unerheblichen Erbschaft zu bekommen. Er selbst benötigte kaum noch Geld, wollte es jedoch zum Wohl des Dorfes einsetzen. Eine Schule brauchten sie, einen Lehrer. Vielleicht konnte er einen Arzt dazu bewegen, hin und wieder auch diese entlegene Region aufzusuchen, und vielleicht würden sie eine Wasserleitung verlegen. Strom? Ein kleines Wasserkraftwerk? Nein, vorerst nicht. Der Pangje wollte mit dem Geld haushalten und es nur vorsichtig einsetzen.
Er verbrachte mehrere Tage in der Bank und verwandelte sich dafür wieder in Sylvain zurück, doch sobald er am Abend in sein Hotelzimmer kam, streifte er die moderne Kleidung ab und hüllte sich in die Tracht seines Dorfes.
Dann, eines Abends, fand er Mauro. Er lag in einem Hauseingang, drogenabhängig, ausgemergelt und lebensmüde, und bettelte um Geld. Der Pangje, angewidert von der verkommenen Erscheinung, war schon an ihm vorbeigegangen, als er plötzlich stutzte. Da war etwas Vertrautes gewesen, eine Bewegung, eine Geste, etwas in der Stimme des Bettlers … Er kauerte sich neben den apathischen jungen Mann, nahm ihn näher in Augenschein und erkannte mit einem Mal unter all dem Schmutz den Sohn seiner Tante und ihres italienischen Mannes. Seinen besten Freund aus Studentenzeiten, der ihn nach Nepal begleiten wollte und sich dann doch anders entschieden hatte. Entsetzt rüttelte er ihn am Arm, kämpfte um seine Aufmerksamkeit. Irgendwann flackerte Freude in Mauros tabakbraunen Augen auf.
»Sylvain«, flüsterte er. »Bin ich im Totenreich?«
Er nahm ihn mit in die Berge. Jampa kümmerte sich um Mauro, und nachdem er einigermaßen wiederhergestellt war, feierten der Pangje und Jampa Hochzeit. Der Pangje erfuhr, dass Mauro tatsächlich mit Marten in Poona gewesen war. Es hatte ihm gut gefallen, doch nach einem Jahr überwog seine Abenteuerlust das kontemplative Miteinander im Aschram, außerdem hatte er Sehnsucht nach Sylvain. Einen Monat später erreichte er Kathmandu, aber er kam zu spät. In der Hippiegemeinde kursierten die Gerüchte über Sylvains tödlichen Unfall, doch Genaueres wusste niemand. Bärbel und Pieter waren längst fort, und auch Achim hatte die Stadt einige Monate zuvor verlassen. Mauro war in Kathmandu geblieben, wo sollte er auch hin? In seiner Trauer um den verlorenen Cousin und Freund rauchte er immer mehr, nahm LSD und betäubte sich schließlich mit Heroin. Als der Pangje ihn fand, war er ganz unten angekommen.
Mauro blieb ein Jahr, doch dann wurde er unruhig. Ihm gefielen das Dorf und seine Menschen, doch er hatte seine Bestimmung noch nicht gefunden. An einem außergewöhnlich warmen Tag im April packte er seine wenigen Habseligkeiten in eine gewebte Tasche und ging wieder hinaus in die Welt. Zweieinhalb Jahre später kehrte er zurück, in der traditionellen gelben Robe der hinduistischen Wanderasketen. Er nannte sich nun Khagendra. Von da an verbrachte er jeden Frühling im Dorf, und seine Freundschaft mit dem Pangje bekam eine Tiefe und Verbundenheit, die sie in Paris nie erreicht hatte. Sie wurden älter, weiser, ruhiger, und selbst der schwelende Hass des Schneeleoparden auf Achim erkaltete zu einem kaum wahrnehmbaren Glimmen. Er und Jampa waren Eltern von zwei Söhnen und einer Tochter – ihm fehlte nichts zu seinem Glück.
Dann kam jener Tag im Januar 1983, der alles veränderte.
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57
Januar 1983
D em Pangje, seiner Frau Jampa, ihrem ältesten Sohn, dem neun Jahre alten Dzangbu, und acht weiteren Bewohnern ihres Dorfes stand das Glück ins Gesicht geschrieben. Bereits zum dritten Mal, seit sie vor dreizehn Jahren den Pangje gefunden hatten, waren sie zur Sama Gompa gepilgert, und die ebenso mühselige wie erhebende Reise hatte ihre Lebensfreude geschürt. Hinzu kam, dass sie die beiden Söhne des Dorfes, die in dem weit von ihrer Heimat entfernten Kloster als Mönche dienten, bei bester Gesundheit vorgefunden hatten. Doch nun freuten sie sich auf ihr Dorf und ihre Lieben, von denen sie nur noch wenige Tagesreisen trennten.
Sie hatten die Nacht in
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