Im Tal des Schneeleoparden
gesalzenem Buttertee. Das Leben war hart, aber unkompliziert, und als Sylvains Kräfte wuchsen, machte er sich nützlich, erst im Haus, später auch auf den Feldern. Die wenigen Bewohner des Dorfes, es mochten etwa einhundertfünfzig Menschen sein, nahmen ihn mit offenen Armen auf. Sie gaben ihm dicke Hosen und Hemden aus handgesponnener Wolle, und für den Winter schenkte ihm seine zukünftige Frau einen Chuba genannten Wickelmantel, der ihn ein Leben lang wärmen würde. Sein Gesicht und seine Hände wurden dunkler, und erste Falten gruben sich in sein junges Gesicht, seine langen Haare verfilzten, und bald verrieten nur seine hellen Augen, dass er nicht aus Mustang stammte. Sie nannten ihn den Pangje. Er nahm seinen neuen Namen mit Freuden an. Er war angekommen. Und obwohl er immer wieder die Bilder von seiner glücklichen Zeit mit Babsi heraufbeschwor, schmerzten ihn die Gedanken an sie weniger und weniger, bis sie schließlich, beinahe unmerklich, zu einer bittersüßen Erinnerung verschwammen.
Und dann, es mochten beinahe anderthalb Jahre vergangen sein, traf es ihn wie ein Schlag: Er hatte mehrere Tage hintereinander nicht an Babsi gedacht. Es war eine furchtbare Erkenntnis. Gebeutelt von Scham und Schuldgefühlen, haderte er mit sich selbst. Verraten, er hatte Babsi verraten! Sie hatte ihm ihr Leben anvertrauen wollen, und er warf es einfach fort. Jede Minute mit Babsi rief er sich ins Gedächtnis zurück, und jede einzelne erschien ihm kostbarer als ein Diamant. Er schwor sich, zu ihr zurückzukehren, wenn nötig auf allen vieren zu ihr zu kriechen – bis ihn im nächsten Moment der Gedanke überfiel, dass sie vielleicht schon fort war, einen anderen hatte. Vielleicht hatte sogar Achim seinen Platz eingenommen, wie konnte es anders sein, er, Sylvain, war doch tot!
Tot. Sylvain sackte zusammen. Sterben, das war die Lösung. Die Welt hatte sein Grab doch schon ausgehoben, er brauchte sich nur noch hineinzulegen.
Nach fünf Tagen, in denen er weder gegessen noch getrunken hatte, zwang Jampa ihn erneut liebevoll ins Leben zurück. Sylvain war kaum noch Herr seiner Sinne, doch immer, wenn die Schleier zerrissen, traf ihn ihr ebenso mitleidiger wie verständnisvoller Blick. Obwohl er Babsi niemals erwähnt hatte, schien sie zu ahnen, welche Dämonen ihn folterten.
Als er erwachte, kauerte Jampa neben seinem Lager, und ihm war, als erlebte er ein Déjà-vu, doch diesmal war er nicht zur Sprachlosigkeit verdammt. Stockend erst, dann mit immer größerer Dringlichkeit, erzählte er ihr von dem, was ihn bedrückte, von Babsi und seinen immer diffuser werdenden Gefühlen für sie, von seiner Verwirrung und seiner Todessehnsucht.
Sie verstand. Sie gab ihm alle Zeit der Welt. Und während seine Liebe zu Babsi verblasste, wuchs seine Zuneigung zu Jampa, bis schließlich Liebe daraus wurde, doch er behielt es für sich. Denn auch nach jenen Tagen voller Zweifel und Selbsthass gelang es ihm nicht, mit sich ins Reine zu kommen. Zu stark war die Erinnerung an ihren Abschied, an Babsis Angst, er könne sie alleinlassen in einer bedrohlichen Welt. Noch immer verfolgte ihn Babsis trauriges Gesicht bis in den Schlaf, und eines Tages, zwei Jahre nach seiner Rettung, als sein Humpeln bereits einem geschmeidigeren Gang gewichen war, beschloss er, nach Kathmandu zu wandern und nach ihr zu suchen. Bevor er sich auf sein neues Leben einlassen konnte, musste er ein für alle Mal mit dem alten abschließen.
Kathmandu mit seinem Lärm, seiner schlechten Luft und seiner Enge erschien ihm primitiver als sein Dorf. Nach nur zwei Tagen wusste der Mann, der nun der Pangje genannt wurde, dass er nichts mehr in der Stadt verloren hatte, geschweige denn in Paris oder dem Rest der Welt. Er sehnte sich zurück nach den dunklen, kerzenerleuchteten Nächten, wenn alle zusammenrückten und Zeit zum Geschichtenerzählen hatten, zum Lachen, zum Mitfühlen und Mitleiden.
Er mischte sich unter die Hippies und versuchte, etwas über den Verbleib von Babsi, Pieter und Achim zu erfahren, doch niemand konnte sich an sie erinnern. Zu viel Zeit war vergangen, die Hippies von damals hatten sich in alle Winde zerstreut. Sollte er versuchen, Babsi in Deutschland ausfindig zu machen? Mehrere Tage haderte der Pangje mit dem Für und Wider, unterließ es dann jedoch. Babsi hatte Nepal verlassen, weil sie ihn für tot hielt. Sicher hatte sie in der Zwischenzeit einen anderen Mann kennengelernt, und es wäre sinnlos und egoistisch, ihr Leben erneut
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