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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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aber sie sah nur ein Gewimmel von Menschen vor dem Hintergrund trister Ziegelfassaden.
    »Was meinen Sie?«
    »Sehen Sie genauer hin.«
    Erst verstand Anna nicht, doch nach einer Weile nahm sie Einzelheiten wahr. Sie bemerkte einen ganz in Orange und Gelb gekleideten Heiligen im Gespräch mit einer Frau, deren in allen Schattierungen von Pink bis Rot schillernder Seidensari selbst seine Robe überstrahlte. Ein Vater im Anzug pflügte, seinen halbwüchsigen Sohn im Schlepptau, durch eine Gruppe bezopfter Schulmädchen. Menschen aller Hautfarben und Größen rannten durcheinander, redeten, machten Geschäfte, ließen sich die Schuhe putzen, kauften Naschwerk und Blumengirlanden. Blumengirlanden? Anna zwinkerte. Sie hatte sich nicht getäuscht: Die Girlanden bestanden aus aufgefädelten orangefarbenen Studentenblumen. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, das erste, seit sie Lüneburg vor zwei Tagen verlassen hatte. Sollte sie zumindest dieses kleine Geheimnis ihrer Mutter bereits gelüftet haben?
    Das Taxi bog schließlich in eine baumbestandene schmale Straße ein. Annas Freude über den Anblick Dutzender westlicher Touristen erhielt allerdings sofort einen Dämpfer, als sie bemerkte, dass im Kielwasser eines jeden Touristen mindestens zwei Bettler trieben. Einheimische Frauen wuschen ihre Wäsche an einem Hydranten, ihre nackten Kleinkinder saßen auf dem Bürgersteig. Der Fahrer überholte eine Rikscha, gezogen von einem klapperdürren Mann in einem blaukarierten Wickelrock. Die ganz aus Holz gefertigte Rikscha sah schon schwer genug aus, doch als Anna die beiden mit Gepäck beladenen Touristen darin entdeckte, entfuhr ihr ein missbilligender Ausruf. Kim hörte es.
    »Anna, es ist sein Job!«, rief er über das plärrende Radio hinweg. »Er ist froh, sein Geld auf ehrliche Weise verdienen zu können. Sie sollten sich nicht scheuen, eine Rikscha zu benutzen.«
    Anna schüttelte den Kopf. »Es sieht so aus, als hätte ich viel zu lernen«, flüsterte sie. Diesmal konnte er es nicht hören, und er sollte es auch nicht. Anna atmete tief durch, als das Taxi ausrollte und vor dem hübschesten Haus der Straße zum Stehen kam.
    Die Rezeption des Fairlawn Hotel war eine Symphonie in Mintgrün: grüne Tische, grüne Stühle, grüne Wände, grüne Decke, grüner Teppich und, was das Beste war, der Blick in einen begrünten Garten. Anna atmete auf. Das blitzsaubere Fairlawn gefiel ihr auf den ersten Blick, die Angestellten begegneten ihr freundlich, und als sie ihr hübsches Zimmer in Besitz nahm, war die Welt fast schon wieder in Ordnung.
    Notfalls würde sie sich bis zur Abreise nach Darjeeling einfach hier verschanzen.

[home]
15
    D er Pangje sah die Soldaten erst, als es bereits zu spät war. Hastig zog er sich in die Deckung der Bäume zurück und wusste im selben Moment, dass er einen Fehler gemacht hatte. Sein Verhalten würde ihr Misstrauen erst wecken. Sie mussten ihn bemerkt haben. Und tatsächlich hörte er nur einen Lidschlag später aufgeregte Stimmen.
    »Da war einer!« – »Wo?« – »Dort, bei der Weggabelung. Er hat uns gesehen und ist verduftet.« – »Ein Rebell! Hinterher!« Eine befehlsgewohnte Stimme erhob sich über das Getümmel. Der Pangje hielt sich nicht damit auf, um den Baumstamm zu spähen und herauszufinden, was fünfzig Meter den Hang hinunter geschah, sondern drehte sich um und suchte sein Heil in der Flucht. Ihm war klar, dass er auf Dauer den viel jüngeren Soldaten nicht würde davonlaufen können, doch es bestand Hoffnung: Sie mussten bergauf rennen, und es war fraglich, ob sie es in schwierigem Gelände mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung des Verbergens und Hakenschlagens aufnehmen konnten. Sie ahnten nicht, wozu er in der Lage war. Wenn er genügend Zeit hatte.
    Er jagte in den lichten Wald des Mahabarath, tiefhängende Zweige peitschten ihm ins Gesicht und hinterließen Striemen auf seiner Wange. Er merkte es kaum. Hinter ihm, in kürzer werdendem Abstand, knackten Zweige, erklangen aufgeregte Stimmen. Die Soldaten kreisten ihn ein. Sie waren in besserer Verfassung, als er vermutet hatte. Hektisch suchte er den Wald nach einem Versteck ab, einer Mulde, in die er sich drücken, einem Baum, hoch und dicht genug, dass er ihn erklettern konnte, doch er fand nichts. Weiter raste er, immer weiter – und trat ins Nichts. Unwillkürlich stieß er einen Schrei aus, versuchte sich mit rudernden Armen zurückzuwerfen, doch der Schwung seiner Flucht trug ihn über die Kante des Felsens

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