Im Tal des Schneeleoparden
hinaus. Noch im Fallen wurde er sich der Ironie der Situation bewusst. Der Kreis schließt sich, dachte er, und sein Fall verwandelte sich in ein heiteres Fliegen. Es ist mein Schicksal.
Er kam mit dem Hintern zuerst auf. Der Aufprall nahm ihm den Atem. Instinktiv rollte er sich zusammen und schoss als menschliche Kugel in ein dichtes Gebüsch, das seine wahnwitzige Talfahrt zum Stillstand brachte. Benommen blieb er liegen und horchte in sich hinein. Die Erkenntnis durchfuhr seinen Körper wie ein Stromschlag: Er war nicht tot, nicht einmal verletzt, von einigen Prellungen, Rissen und Schnittwunden abgesehen. Er hatte eine Chance. Mühsam kam er auf die Knie, krallte seine Hände in den lebensrettenden Busch und zog sich hoch. Er musste weiter, schnell!
Zwei Soldaten, ebenso außer Atem wie er, standen vor dem Busch und hielten ihre Waffen auf ihn gerichtet. Dem ersten Déjà-vu folgte ein zweites, unendlich schmerzhafteres. Langsam hob der Pangje die Hände.
»Wer bist du?« Die Stimme des Truppführers überschlug sich beinahe vor Wut, doch es gelang ihm nicht, den Pangje einzuschüchtern. Obwohl zwei der Soldaten ihn fest gepackt hielten, hatte er seine Ruhe zurückgewonnen und schätzte seine Aussichten auf eine Flucht ab. Ihm war bewusst, dass seine Gelassenheit die Soldaten und auch den Truppführer irritierte, sogar einschüchterte, und seine blassgrünen Augen taten ein Übriges. Im Gesicht einiger der Soldaten hatte er den aufkeimenden Verdacht entdeckt, er sei derjenige, von dem nur geraunt wurde, der furchteinflößende Schneeleopard. Er konnte ihre Angst riechen. Leider schien der Truppführer, augenscheinlich ein Mann aus dem Terai, immun gegen den ihm vorauseilenden Ruf zu sein. Oder aber er hatte noch nie von ihm gehört. Die Operationsgebiete des Pangje lagen weit entfernt, er konnte sich nicht darauf verlassen, dass die Legenden um seine Person bis in Nepals Tiefland gedrungen waren.
»Wer bist du?«
Der Truppführer verlor zusehends die Geduld. Es war klüger, zu antworten.
»Ein einfacher Bauer aus Loh.«
»Ein Bauer?« Der Truppführer wedelte mit einer Pistole vor seinem Gesicht herum. »Und wie erklärst du uns dann die hier? Erschießt du dein Getreide, bevor du es erntest?«
»Es sind unsichere Zeiten. Überall treibt sich Gesindel herum.«
»Gesindel?« Jetzt kochte der Mann wirklich. Der Pangje war zu weit gegangen: Der Truppführer hatte verstanden, dass er gemeint war. Erstmals keimte Verunsicherung in dem Pangje auf. Der Truppführer war ein alter Kämpfer und alles andere als dumm. Und vor allem: Er hatte keine Angst. Vor niemandem. Ein ernstzunehmender Gegner.
»Du kommst also aus Loh. Was treibst du dann hier, weit entfernt von deinem Dorf? Wo warst du?«
»In Kathmandu«, knurrte der Pangje.
»Was hattest du dort zu schaffen?«
»Das geht dich nichts an.«
Der Fausthieb kam ohne Vorwarnung. Der Pangje keuchte auf, würgte, übergab sich. Hätte sich am liebsten auf der Erde zusammengekrümmt, doch die beiden Soldaten hielten ihn mit eisernem Griff und zwangen ihn in eine aufrechte Position. Schmerz überflutete ihn in Wellen, die nur langsam abebbten. Erbrochenes rann ihm das Kinn hinunter.
»Das geht mich also nichts an?«, zischte der Anführer. »Dann sollte sich der Herr langsam klarmachen, dass ich ein Vertreter des Königs bin. Und den geht es sehr wohl etwas an, wenn ein zwielichtiges Subjekt, bewaffnet mit einer Pistole und einem Kukuri, durch seine Wälder streift und –«
Ein aufgeregter Ruf unterbrach ihn. Einer der Soldaten hatte den Chuba des Pangje untersucht und eine verborgene Tasche in einem der Ärmel entdeckt. »Rupien!«, rief er und schwenkte ein dickes Bündel Geldscheine. »Es müssen Tausende sein, nein, Hunderttausende!«
»Was?« Der Anführer fuhr herum, riss dem Soldaten das Geld aus der Hand und starrte ungläubig darauf. Dann drehte er sich langsam wieder um. In seinen Augen funkelte die Gier.
»Ein Bauer, aha«, sagte er gefährlich leise. Dann hob er die Stimme: »Fesselt ihn. Wir nehmen ihn mit.«
Eine halbe Stunde später trieben die Soldaten den Pangje durch den Wald. Er biss die Zähne zusammen. Sein Körper war geschunden von dem Sturz und dem Schlag, die Fesseln gruben sich unerträglich fest in seine Handgelenke, doch am schärfsten empfand er den Schmerz über seine eigene Dummheit. Er hatte sich auf seine Instinkte verlassen und war unaufmerksam geworden, etwas, was dem Schneeleoparden niemals passieren durfte.
Weitere Kostenlose Bücher