Im Tal des Schneeleoparden
Niemals. Und dann bemerkte er eine Bewegung im Schatten des Unterholzes. Gleitend, heimlich, todbringend. Er spannte den Körper. Wer oder was immer ihnen dort auflauerte, er war bereit.
»Halt!«
Tara schrak aus ihren Grübeleien hoch. Wie schon die Tage zuvor war sie in stetigem Tempo vorangeschritten, ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Kaum dass sie bemerkt hatte, ob sie bergauf oder bergab ging. Sie blinzelte. Ein Mann in grüngrauem Tarnanzug, ein furchteinflößendes Gewehr in den Händen, blockierte den Waldpfad. Er trug ein buntes Tuch über Mund und Nase geknotet, so dass sie nur seine obere Gesichtshälfte sehen konnte. Dunkle Augen funkelten sie an, weder freundlich noch unfreundlich. War er ein Rebell? Ein Soldat? Machte es einen Unterschied? Konnte sie überhaupt jemandem vertrauen, der mit einer Waffe auf sie zielte? Trotz der bedrohlichen Situation blieb Tara gelassen. Nach dem Zwischenfall mit dem Leoparden würde sie so schnell nichts mehr aus der Ruhe bringen. Dies war ein Mensch, und mit Menschen konnte man reden.
»Was hast du hier zu suchen?«, fragte der Mann und warf einen nervösen Seitenblick auf den Hund, der sich knurrend vor Tara gestellt hatte.
Tara beugte sich vor und streichelte über sein gesträubtes Rückenfell. »Ruhig«, sagte sie leise. Der Mut des Hundes war bemerkenswert, und sie empfand es als ein Wunder, dass er sich so schnell von seiner Verletzung erholt hatte. Für einen Hund lief er zwar noch recht langsam, aber er hatte schon am zweiten Tag wieder mit ihr Schritt halten können. Nachdem sie das Tier beruhigt hatte, richtete sie sich auf. »Ich komme aus Gorkha und bin auf dem Weg nach Kathmandu«, sagte sie. »Warum lässt du mich nicht weiterziehen?«
»Zwischen Gorkha und Kathmandu verkehren Busse«, stellte er mit unüberhörbarem Misstrauen fest.
Tara wurde nun doch nervös. Der Mann hatte ihr mitten in einem Waldstück aufgelauert, und sie war seit ihrem frühmorgendlichen Aufbruch aus dem letzten Dorf nur wenigen Wanderern begegnet. Den letzten Menschen hatte sie um die Mittagszeit gesehen, und nun musste es schon später Nachmittag sein.
Sie hatte dem Maskierten nichts entgegenzusetzen, und auch der Hund würde gegen eine Kugel nichts ausrichten können. War er Freund oder Feind? Alles, was sie über die gegenwärtige Politik in Nepal wusste, hatte sie von Bahadur erfahren, und sie stand eindeutig auf Seiten der Rebellen. Wenn sie nun etwas Falsches sagte und der Mann ein Soldat war, würde sie vielleicht auf Nimmerwiedersehen im Gefängnis landen. Tara begann zu schwitzen. Was sollte sie tun? Hilfesuchend starrte sie den Mann an, in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden. Dann bemerkte sie Löcher und Flicken in der Uniform des Mannes. Und seine Plastiksandalen. Er war kein Regierungssoldat.
»Ich konnte den Bus nicht benutzen«, sagte sie und bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Wegen der Soldaten.«
Der Mann musterte sie interessiert, wenn auch sein Misstrauen noch nicht zerstreut war. »Warum hast du Angst vor den Soldaten?«
Tara ging aufs Ganze. »Meine Brüder kämpfen für die Maoisten.«
»Kannst du es beweisen?«
Tara sank das Herz. Wie sollte sie es beweisen? Die Namen ihrer Brüder verraten?
»Du brauchst ihre Namen nicht zu verraten«, unterbrach der Mann ihre Gedanken, als wüsste er, was in ihr vorging. »Folge mir.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ den Hauptweg. Tara sah ihm einen Moment lang unentschlossen nach, dann bahnte sie sich ebenfalls einen Weg durch das Unterholz. Nach einigen Metern erreichte sie einen kaum sichtbaren Trampelpfad. Der Mann schritt schnell aus, und bald umschloss dichter Wald sie von allen Seiten.
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16
A nna sortierte zum dritten Mal ihren Koffer neu, drückte, stopfte und zerrte an den Verschlüssen, aber es half nichts: Er ging nicht zu. Sie klappte den Deckel wieder auf und nahm ihre dicke Jacke heraus. Sie würde sie wohl oder übel bis Darjeeling überm Arm tragen müssen. In Kalkutta war es wesentlich wärmer, als Anna vermutet hatte. Vermutet? Anna verzog den Mund. Wenn sie ehrlich war, hatte sie keinen Gedanken an das Klima in Kalkutta verschwendet, sondern Ingrids Informationen über Darjeeling einfach auf den Rest von Indien übertragen. Die schwüle Hitze Kalkuttas war etwas Neues für sie, ein Klima, von dem sie bisher zwar in Büchern und Zeitschriften gelesen, es sich aber nie hatte vorstellen können.
In ihrem Gepäck befanden sich nur warme
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