Im Tal des Schneeleoparden
die Halle in tiefem Schatten. Anna vermutete, dass in den düsteren Winkeln und Gängen die mit dicken Staubschichten bedeckten Skelette jener Reisenden gelagert wurden, die während des Wartens auf den erlösenden Einreisestempel verdurstet waren.
Noch achtzehn Passagiere. Siebzehn, sechzehn, fünfzehn. Anna schob ihr Handgepäck mit dem Fuß vor sich her. Sie versuchte, in den Mienen der anderen dieselben Bedenken zu erkennen, fand jedoch nur unendlichen Gleichmut. Zumindest bei den Indern. Etwa dreißig Plätze weiter hinten entdeckte Anna ein europäisches Pärchen mit hochroten Köpfen, offensichtlich kurz vorm Explodieren. Vierzehn, dreizehn. Der Schreibtisch rückte in greifbare Nähe. Zwölf, elf, zehn, neun. Der Beamte von der Passkontrolle legte plötzlich Tempo vor. Anna trat von einem Fuß auf den anderen. Sollte sie wider Erwarten doch noch am heutigen Tag die Abfertigungshalle verlassen können? Acht, sieben, sechs. Bei Nummer fünf, einer indischen Matrone mit Goldrandbrille, goldenem Schmuck und zwischen Sari und Bluse hervorquellenden Fettpolstern, gab es Schwierigkeiten. Gestenreich und mit erstaunlicher Dezibelstärke versuchte die Dame, dem Wächter der Stempel ihre Situation zu erklären, doch er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und schob ihr ein Formular zu. Wutschnaubend füllte sie es aus, während die hinter ihr wartenden Menschen auch diese neuerliche Verzögerung mit für Anna unfassbarem Fatalismus ertrugen. Der Beamte pulte sich inzwischen das Frühstück aus den Zähnen und gähnte, dann zog er einen Kamm hervor und drapierte einige ölige Haarsträhnen über die ebenfalls ölige Glatze. Anna zählte im Stillen bis hundert. Eigentlich war sie ein ausgeglichener Mensch, Rebecca würde sagen sanftmütig, aber was zu viel war, war zu viel. Konnte die Frau ihren Papierkram nicht woanders erledigen? Oder sich vorher um alles kümmern?
Irgendwann bekam Anna ihren Stempel. Nun war es amtlich: Sie befand sich in Indien. Mit einem flauen Gefühl eilte sie zur Gepäckausgabe, wo bereits das Chaos tobte. Ihr Koffer fuhr mit Hunderten von anderen Koffern, Kisten und Taschen Karussell. Anna kämpfte sich ins Epizentrum der Aufregung vor und wuchtete ihren Koffer vom Band direkt in die Arme eines Gepäckträgers, der hinter ihr aus dem Boden geschossen sein musste, so plötzlich war er aufgetaucht. Obwohl nur ein kleiner, dünner Mann, erwies er sich als überraschend kräftig, als Anna ihm den Koffer entreißen wollte. Den Tränen nahe, zerrte sie am Koffergurt. Was sollte sie tun? Mit einem zahnlückigen Grinsen umarmte der Gepäckträger den Koffer und wankte unter dem nicht unerheblichen Gewicht zu einer Karre, während Anna ihm resigniert durch die Menschenmenge in der Halle hinterhertrottete, hinaus in den nächsten Tumult. Ein Meer von braunen Armen und Pappschildern reckte sich Anna entgegen, weiße Zähne blitzten aus dunklen Gesichtern, weit geöffnete Münder schrien ihr Unverständliches entgegen, ihr summten die Ohren, sie konnte nichts mehr erkennen und war kurz davor, hysterisch zu werden. Der Gepäckträger steuerte unbeeindruckt auf die Menge zu, und Anna wusste nicht, wie sie ihn stoppen sollte.
Jemand verstellte ihr den Weg. Sie versuchte, an der Person vorbeizukommen – bloß nicht den Gepäckträger verlieren! Aber die Person hatte es auf sie abgesehen. Nur langsam realisierte Anna, dass ihr ein Schild unter die Nase gehalten wurde, und dann dauerte es noch einmal so lange, bis sie begriff, was die Buchstaben vor ihr zu bedeuten hatten.
»Willkommen in Indien, Anna Siefken« stand dort.
»Heißen Sie Anna?«
Deutsch! Anna gelang es, die Augen vom Rücken des Gepäckträgers zu lösen, des einzigen Fixpunktes in dem überwältigenden Strudel von Farben, Gerüchen und Geräuschen, der ihr noch Halt gegeben hatte, und blickte auf. Vor ihr stand ein junger Inder und lächelte sie an. Endlich fiel der Groschen: Ingrid hatte angekündigt, jemanden von Darjeeling nach Kalkutta zu senden, um sie abzuholen, doch Anna hatte heroisch abgelehnt, weil sie sich beweisen wollte, dass sie keinen Babysitter benötigte.
Geduldig wiederholte er seine Frage. »Sie sind doch Anna Siefken, oder? Ich bin Ingrids Sohn. Hat meine Mutter Ihnen nicht geschrieben, dass ich Sie abhole?«
Unendlich erleichtert darüber, dass Ingrid ihre Einwände ignoriert und sogar ihren Sohn geschickt hatte, ergriff Anna seine ausgestreckte Hand und ließ sich von ihm zum Ausgang ziehen, wo er sie in einer
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