Im Tal des Schneeleoparden
Sachen, und sie wäre in den letzten beiden Tagen zerflossen, wenn Kim nicht sofort am Nachmittag ihres Ankunftstages die Initiative ergriffen und sie in einen dunklen Laden gezerrt hätte, der sich als eine Schatzhöhle für die buntesten Saris und Schals erwies.
Der Besitzer, ein freundlicher und beflissener Mann von etwa fünfzig Jahren, hatte sie und Kim genötigt, sich auf ein dick mit Teppichen bedecktes Podest zu setzen, dann hatte er mit den Fingern geschnippt, und kurz darauf erschien ein Junge und servierte ihnen dampfenden Tee in nicht sonderlich sauberen Gläsern. Anna wollte ablehnen, aber Kim zischte ihr zu, der Tee sei unbedenklich. Sobald sie versorgt waren, ging der Händler zum Geschäftlichen über. Mit jedem Fingerschnippen eilten Halbwüchsige mit den Armen voller Stoffe herbei und luden die Bündel vor ihm ab. Als der Händler begann, jedes einzelne Teil mit einer geübten Drehung des Handgelenks auseinanderzufalten, protestierte Anna. Sie könne auch so gut sehen, was er im Angebot hätte! Doch ihr Protest verhallte. Vier Gläser Tee später sah sich Anna von Bergen bunter Stoffe umgeben und konnte sich nicht entscheiden. Hilflos wandte sie sich an Kim.
»Was soll ich nehmen?«
»Welches ist deine Lieblingsfarbe?«
»Ich weiß nicht. In Deutschland trage ich fast nur Schwarz und Grau. Blau gefällt mir auch.«
»Schwarz und Grau?« Kim lachte. »Mit diesen Vorlieben wirst du in Indien nackt gehen müssen.« Immer noch lachend, wühlte er in dem Stoffberg und zog schließlich ein hellblaues Gewand hervor. Prüfend hielt er es neben Annas Gesicht, runzelte die Stirn und warf es zurück auf den Haufen. »Zu blass«, konstatierte er und tauchte erneut in den Stoff ein. Der Händler tat es ihm nach, und für die nächste halbe Stunde wurde Anna in eine Kleiderpuppe verwandelt. Die Männer hielten die Modefrage offensichtlich für wesentlich wichtiger als sie selbst. Am Ende bezahlte sie einen lächerlichen Betrag für zwei unterhaltsame Stunden und eine Tüte, in der es türkis, maigrün und kirschrot schillerte.
Ohne die Jacke ließ sich der Koffer schließen. Anna hievte ihn vom Bett und strich ihr grünes Gewand glatt. Kim hatte ihr erklärt, das Ensemble würde Salwar Kameez genannt. Es bestand aus einer nach unten weiter werdenden kurzärmeligen Bluse, die fast bis zu den Knien reichte und an den Kanten mit einem aufwendigen Muster aus Perlen und Pailletten bestickt war. Die dazu passende weite Hose wies dieselben Stickereien am Saum auf. Eigentlich hätte sie zu diesem Aufzug Sandalen tragen müssen, aber sie hatte Kims Überredungskünsten widerstanden und auf ihren Turnschuhen beharrt, Schweißfüße hin oder her. Die Vorstellung, mit so gut wie nackten Füßen durch Kalkuttas schmutzige Straßen zu laufen, ekelte sie.
Anna nahm die bereitliegende Dupatta, einen dünnen, auf Bluse und Hose abgestimmten Schal, und legte sie sich vorn um den Hals, wie sie es den Inderinnen abgeschaut hatte. Sie hatte sich entschieden, auch auf der Reise ein Salwar Kameez zu tragen. Es war luftig genug, so dass sie die Hitze der indischen Ebene ertragen würde, und außerdem gefiel es ihr. Sie wünschte, Rebecca könnte sie sehen. Angesichts der leuchtenden Farben würde ihre Freundin den Mund nicht mehr zubekommen.
Als sie gestern in dem kirschrot und pink gemusterten Modell das Hotel verlassen hatte, stellte sie zu ihrer Erleichterung bald fest, dass ihr Aufzug besser war als eine Tarnkappe. Mit ihrer geringen Größe, den schulterlangen schwarzen Haaren und einem Inder an ihrer Seite fiel sie im bunten Gewimmel weniger auf, als wenn sie ihren geliebten grauen Pullover angehabt hätte. Es dauerte nicht lange, bis sich Anna erstaunlich wohl fühlte. Kim verlieh ihr Sicherheit, und er hatte sich offensichtlich vorgenommen, ihr die schlimmeren Seiten der Stadt zu ersparen. Ihr erster Tag in Indien hätte durch und durch gelungen sein können, hätte sie nicht auf dem Rückweg zum Hotel die Frau entdeckt.
Sie war sehr jung und lag schlafend auf dem breiten Bürgersteig einer der Hauptstraßen. Ein fleckiges Stück Pappe diente ihr als Unterlage, ein dünnes Tuch als Decke. Die Passanten eilten achtlos an ihr vorbei, manche stiegen sogar mit einem großen Schritt einfach über sie hinweg. Anna blieb fassungslos stehen. Die Frau konnte unmöglich hierbleiben! Und dann erstarrte sie. Unter der Decke regte sich etwas, eine winzig kleine Hand wurde sichtbar. Von der Bewegung alarmiert, schlug die Frau die
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