Im Tal des Schneeleoparden
lauschte schweigend und wiegte seinen Kopf immer schneller hin und her.
»Du hast sehr viel Glück gehabt, Mädchen«, stieß er schließlich hervor. »Die Leute aus den umliegenden Dörfern kennen den Leoparden. Er ist aggressiv und lässt sich kaum einschüchtern.« Er senkte die Stimme. »Sie sprechen davon, ihn zu töten, aber das steht unter Strafe. Leider. Obwohl ich gehört habe, dass es Männer gibt, die viel Geld für sein Fell bezahlen würden.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Es sind schöne Tiere, doch sie richten viel Unheil an.«
»Aber sind es nicht wir, die ihnen den Wald stehlen?«, fragte Tara. Sie hatte Vertrauen zu dem Mann gefasst. »Ich habe letzte Nacht dem Tod ins Gesicht geblickt. Glaube mir, ich wollte nicht sterben, und doch hatte ich das Gefühl, der Chituwa sei im Recht.«
Der Mann musterte sie erstaunt. »Das sind weise Worte, Kind, eines Priesters oder Lamas würdig. Woher hast du diese Gedanken?«
Tara zuckte die Achseln. »Ich denke über vieles nach«, sagte sie einfach.
»Über vieles, aha«, brummte der Mann. Dann wandte er sich dem Hund zu. »Ein Bhotakukur«, sagte er. »Ein starkes Tier. Gehört er zu dir?«
»Ich habe ihn als Welpen auf den Hof geholt. Er war ein guter Wachhund. Und nun stirbt er.« Tara brach die Stimme.
Der große Berghund lag noch immer auf der Seite und atmete schwer. Blut verklebte sein dichtes schwarzes Rückenfell. Als der Mann die Stelle untersuchte, jaulte der Hund vor Schmerz auf.
»Sieh nur, er hat die Augen geöffnet!«, rief Tara.
»Und sie werden offen bleiben«, sagte der Mann. »Dein Hund stirbt nicht. Die Pranke des Chituwas hat ihm eine böse Wunde in den Rücken gerissen, aber er wird es überleben. Gib mir etwas Stoff, damit wir ihn verbinden können.«
Mit wachsendem Erstaunen verfolgte Tara, wie der Mann die Wunde mit etwas Wasser aus seiner Trinkflasche auswusch und ihm mit ihrem Schlafhemd einen Verband anlegte. »Woher weißt du, wie man so etwas macht?«, fragte sie.
Jetzt war es an ihm, die Achseln zu zucken.
»Ich weiß gar nichts. Ich mache es einfach«, sagte er. »Und nun lass uns den Korb ausladen und deinen Hund hineinlegen. Ich trage ihn dir bis zum nächsten Dorf und hole meine Waren später.«
»Das kann ich unmöglich annehmen. Der Hund wiegt mehr als mein kleiner Bruder. Außerdem kann ich dich nicht bezahlen.«
»Still. Diesen Hund haben die Götter gesandt, um dein Leben zu retten. Ich fühle mich geehrt, nun seins retten zu dürfen. Außerdem ist es nur noch eine Stunde Fußmarsch.«
Tara fügte sich. Nachdem sie die Kisten hinter dem Chautari unter einer Lage trockener Blätter versteckt hatten, ging der Mann vor dem Gitter in die Hocke, legte sich den Stirngurt um, richtete sich mühsam auf und begann sofort mit dem Aufstieg durch den Wald. Tara folgte ihm. Der Hund in der unbequemen Kiepe hielt seinen Blick auf sie gerichtet und rührte sich nicht. An einer besonders steilen Stelle kam der Mann ins Straucheln, aber als Tara ihm zu Hilfe sprang, hatte er sein Gleichgewicht schon wiedererlangt.
»Keine Angst, Mädchen, in meinem Geschäft fällt man nicht«, sagte er.
»Was transportierst du denn in deinen Kisten?«, fragte Tara.
Der Mann lachte. »Eier«, sagte er. »Achthundertvierzig rohe Eier.«
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14
E twa zur selben Zeit zwang sich Anna, nicht auf ihre Armbanduhr zu sehen. Es würde ohnehin nichts an ihrer Situation ändern: Gemeinsam mit mehreren hundert Passagieren stand sie in einer Schlange, die sich in den letzten zwei Stunden nur zentimeterweise auf die Schalter der Passkontrolle zubewegt hatte. Zum hundertsten Mal kontrollierte Anna das Indien-Visum in ihrem neuen Reisepass. Hoffentlich war damit alles in Ordnung. Und wenn nicht? Würde sie dann zurückgeschickt werden? Und wäre das wirklich so schlimm?
Durch die Schlange ging ein Ruck. Der Beamte hinter seinem wuchtigen Schreibtisch hatte einen Leidensgenossen in die Freiheit entlassen. Nur noch neunzehn Passagiere vor ihr. Anna schwitzte, ausnahmsweise aber nicht vor Angst oder Nervosität, sondern weil es warm war, sehr warm. Entweder funktionierte die Klimaanlage in der riesigen Ankunftshalle nicht, oder es gab überhaupt keine. Der Zustand der Halle ließ Anna auf die zweite Variante tippen: Die dunkelbraunen Holzpaneele waren uralt und sahen nicht nur scheußlich aus, sondern schluckten alles Licht, das die Spinnen beim Weben ihrer Netze stören könnte. Während draußen die subtropische Sonne in den Himmel stieg, lag
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