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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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relativ ruhigen Ecke warten hieß und sich um das Gepäck und ein Taxi kümmerte. Anna stand wie festgenagelt auf ihrem Platz und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, während sie verfolgte, wie Ingrids Sohn ihren Koffer beim Gepäckträger auslöste und ihn dann in den Kofferraum eines schier unglaublichen Autos hievte. Es wirkte wie ein Spielzeug aus den fünfziger Jahren: kleine runde Scheinwerfer, ein Kühlergrill wie das Maul eines Bartenwals und Buckel und Verzierungen überall dort, wo die Erkenntnisse der Aerodynamik sie bei moderneren Modellen längst fortgeschmirgelt hatten. Die schwarzlackierte Karosserie war mit hellgrüner Rostschutzfarbe großzügig überpinselt, aber immerhin steckte auf dem gelben Dach ein Taxischild. Der Fahrer wurde mit Ingrids Sohn handelseinig und sicherte den Kofferraum mit einer schweren Eisenkette. Himmel, wohin war sie nur geraten? Zögernd setzte sich Anna in Bewegung und rutschte auf den Vordersitz, wo es zu ihrem Erstaunen eine durchgehende Sitzbank gab. Ingrids Sohn folgte ihr, der Fahrer stieg auf der anderen Seite ein. Eingequetscht zwischen den beiden Männern, verließ sie den Flughafen.
    »Ich bin Kim. Kimball Dashgupta.« Ingrids Sohn musste schreien, um sich gegen das Radio zu behaupten. In gnadenloser Lautstärke beschallte es den Innenraum mit indischem Falsettgesang, der Annas Ohren zum Klingeln brachte.
    »Kimball? Ist das ein indischer Name?«, schrie Anna zurück, froh über die Ablenkung. Draußen, jenseits der Autoscheiben, wurde die Welt immer unfassbarer. Bei jedem Halt drückten sich schmutzige Kindergesichter gegen die Fenster, große Augen blickten sie an, manche traurig, manche frech, manche verzweifelt. Den Fahrer und Kimball schien es nicht zu irritieren. Anna versuchte die winzigen Bettler ebenfalls zu ignorieren und betrachtete stattdessen das offene und, wie sie feststellen musste, ungemein attraktive Gesicht von Ingrids Sohn, den sie auf Ende zwanzig schätzte. Dafür, dass seine Mutter Deutsche war, sah er erstaunlich indisch aus: dichte schwarze Haare, gerade lang genug, um sie zur Geltung zu bringen, aber kurz genug, um nicht ungepflegt auszusehen. Riesige dunkelbraune Augen, ohne die grauschwarzen Schatten darunter, die Anna bei vielen ihrer indischen Reisegenossen aufgefallen waren. Ein Teint wie Haselnüsse, nicht ganz hell, nicht ganz dunkel.
    »Wundern Sie sich, dass ich nicht blond bin?«, fragte er belustigt.
    »Nein, das nicht. Ich war nur etwas verwirrt. Es stürzt gerade eine Menge auf mich ein.« Anna hätte sich ohrfeigen können. Sie starrte diesen Kimball an wie das achte Weltwunder, weil ihr nie in den Sinn gekommen war, dass Ingrid mit einem Einheimischen verheiratet sein könnte. Anna, das Naivchen. Rebecca hatte wie immer recht: Ohne jemanden, der ihr die Hand hielt, würde sie in Windeseile unter die Räder kommen. Es reichte schon ein Deutsch sprechender Halbinder beziehungsweise Indisch sprechender Halbdeutscher, um sie aus der Fassung zu bringen.
    »Um auf den Namen zurückzukommen: Kimball ist der Name des Helden aus Kiplings ›Kim‹. Als ich geboren wurde, durchlebte meine Mutter gerade ihre romantische Rudyard-Kipling-Phase. Ich hatte noch Glück, dass sie mich nicht Mowgli genannt hat.«
    »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
    »Die Dschungelbücher? Kim? Mandalay?« Ein übermütiges Glitzern trat in seine Augen, als er die Stimme hob und die indische Radiosängerin in die Schranken wies.
    »›If you’ve eard the east a-callin, you won’t never ’eed naught else. No! you won’t ’eed nothin’ else but them spicy garlic smells, an’ the sunshine an’ the palm-trees an’ the tinkly temple bells‹«,
rezitierte er. »Nie gehört?«
    »Vom Dschungelbuch habe ich gehört.«
    »Den Dschungelbüch
ern
, aber egal. Ich dachte, alle Europäer würden Kipling auswendig herbeten können.«
    »Mein Englisch reicht nicht einmal, um das Gedicht zu verstehen«, sagte Anna. »Dafür spreche ich gut Französisch.«
    »Davon verstehe ich wiederum kein Wort. In dem Gedicht geht es übrigens um die Sehnsucht eines Briten nach dem Osten. Meine Mutter hat es in Schönschrift und gerahmt in jedem der Gästezimmer aufgehängt.«
    »Sehnsucht nach dem Osten, wenn man Europäer ist? Ich glaube nicht, dass es mir jemals so gehen wird.«
    »Warum denn nicht? Sie sind doch noch gar nicht angekommen. Indien ist genauso großartig wie Europa. Da, sehen Sie!«
    Anna folgte mit den Augen seiner auf den Bürgersteig weisenden Hand,

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