Im Tal des Schneeleoparden
Augen auf und drückte den Säugling an sich. Sofort fiel sie wieder in ihren einer Bewusstlosigkeit gleichenden Schlaf, während das Baby leise weinte. Anna erkannte entsetzt, dass die Flecken auf der Pappe Blut waren: Die Frau hatte ihr Baby hier zur Welt gebracht, auf diesem Bürgersteig, inmitten desinteressierter Passanten.
Anna merkte, wie sich ihre Eingeweide zu einem Klumpen ballten. Die Erinnerung an diese Frau würde sie ihr Leben lang heimsuchen, aber das Schlimmste war, dass sie nichts getan, ihr nicht einmal Geld gegeben hatte. Der Schock hatte sie handlungsunfähig gemacht, und wenn Kim sie nicht in ein Taxi verfrachtet hätte, würde sie wahrscheinlich heute noch auf diesem Bürgersteig stehen. Den Rest des Abends zuvor hatte sie heulend und hadernd in ihrem Zimmer verbracht. Kim hatte versucht ihr klarzumachen, dass sie nichts für die Frau hätte tun können, dass sie nicht verantwortlich war für Indiens Missstände, aber sie fand keinen Trost in seinen Worten. Nach einem Leben im weichen Kokon hatte sie den längst überfälligen Blick auf die hässliche Seite der Welt geworfen und kläglich versagt. Sie hätte etwas tun müssen, irgendetwas. Anna wusste, dass sie nicht nur wegen der Frau so verzweifelt war. Ihre Tränen waren vergiftet von Selbstmitleid, und dies ließ sie noch mehr verzweifeln.
Schließlich hatte sie Kim gebeten, noch einmal zu der Frau zu gehen und ihr Geld zu geben. Er war tatsächlich aufgebrochen, kehrte aber mit der Nachricht zurück, die Frau sei nicht mehr da gewesen. Anna schämte sich, denn insgeheim war sie erleichtert. Jetzt konnte sie sich ausmalen, jemand anderes hätte sich der Frau erbarmt oder sie sei von Familienmitgliedern gefunden worden. Es war bitter, aber Anna musste sich eingestehen, dass sie niemals die Verantwortung für die Frau und das Baby hätte übernehmen können oder wollen, so wie Mutter Teresa es getan hatte und wie viele andere in dieser Stadt und dieser Welt es taten. Sie besaß diese Größe nicht, und so blieb ihr nur die Möglichkeit, ihre Ohnmacht mit Geld zu mildern. Sie schwor sich, das Geld, das sie der Frau hatte zukommen lassen wollen, und noch viel mehr zu verteilen, wo immer sie einen Menschen in Not traf.
Es klopfte an der Tür, und Kim trat ein.
»Bist du fertig?«
Anna nickte. Sie hatte das Hotel heute nicht verlassen und fürchtete sich davor, erneut mit der Welt dort draußen konfrontiert zu werden. Auch die Vorstellung, die kommende Nacht im Zug zu verbringen, behagte ihr nicht, und Darjeeling erschien ihr mehr und mehr wie eine Drohung.
Anna stand in der gigantischen, vor Menschen berstenden Halle des Sealdah-Bahnhofs und umklammerte ihren Tagesrucksack. Sie fühlte sich wie im Auge des Sturms.
»Alles in Ordnung. Unsere Namen stehen auf der Reservierungsliste.« Kim hatte sich unbemerkt wieder zu Anna gesellt und hielt ihr eine Plastiktüte entgegen. »Wegzehrung«, bemerkte er, winkte dann einen der Gepäckträger herüber und zeigte ihm das Zugticket. Mit gemischten Gefühlen sah Anna den Mann mit ihrem Koffer in der Menschenmenge verschwinden, während Kim in aller Seelenruhe zum nächsten Stand schlenderte und das Angebot studierte.
Anna folgte ihm. »Ob wir den Koffer noch einmal wiedersehen?«
»Natürlich. Der Mann wird den Platz im Abteil frei halten und wartet auf uns. Außerdem bekommt er seinen Lohn erst im Zug.«
»Aber der Koffer ist doch viel mehr wert als das, was wir ihm bezahlen.«
Kim gab bei der Verkäuferin eine Bestellung auf, dann wandte er sich Anna zu.
»Mein Gott, Anna«, sagte er ernst. »Was hat man dir in Deutschland bloß über Indien erzählt? Glaubst du denn, wir sind alle Diebe und Räuber, ein Volk von Lügnern und Betrügern? Ja, der Mann könnte sich aus dem Staub machen, aber die Wahrscheinlichkeit ist verdammt gering. Schließlich hat er eine Berufsehre. Ein Armer ist doch nicht automatisch ein Verbrecher.«
Anna wünschte sich das sprichwörtliche Loch im Boden herbei, so sehr schämte sie sich. Schon wieder. Kim bemerkte es.
»Ich gebe zu, dass Indien nicht gerade für einen Erholungsurlaub geeignet ist«, brummte er. »War nicht so gemeint.«
»Doch, es war so gemeint, und du hast recht. Ich muss um Entschuldigung bitten, nicht du.«
Ohne zu antworten, zahlte Kim seine Teigrollen und dirigierte Anna durch die Halle zu ihrem Bahnsteig. Ihr Zug war noch nicht da, und auch von dem Koffer fehlte jede Spur. Der Bahnsteig war allerdings so voll, dass ein Elefant hätte
Weitere Kostenlose Bücher