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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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müssen hungrig sein. Entschuldigen Sie, dass man Sie so lange hat warten lassen, aber« – er zuckte die Schultern – »wir müssen vorsichtig sein. Ich hoffe, Sie haben Verständnis.«
    Tara nickte. Sie hatte mit aggressiven Fragen gerechnet, mit Schreien, mit Misstrauen, aber ganz sicher nicht mit Besorgnis um ihren Zustand.
    Der Mann bemerkte ihre Verwirrung, und auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Wenn Sie meinem Kameraden die Wahrheit gesagt haben und Ihre Brüder tatsächlich auf unserer Seite stehen, haben Sie nichts zu befürchten. Kommen Sie, das Essen ist gleich fertig.«
    Verunsichert folgte Tara dem Anführer und einigen anderen Männern zu einem dunkelgrünen Zelt, neben dem ein offenes Feuer brannte. Sie ließen sich um das Feuer nieder, und kurz darauf erschien ein Mann mit zwei Blechtellern und gab einen dem Anführer. Den zweiten reichte er Tara. Sie streckte die Arme aus, hielt aber auf halbem Weg inne. Obwohl sie seit dem frühen Morgen außer einer Packung trockener Nudeln nichts zu sich genommen hatte und der Anblick des üppigen Reisbergs ihren Hunger verdoppelte, ließ die dunkle Haut des Mannes sie zögern. Der etwa Fünfunddreißigjährige gehörte mit Sicherheit einer niedrigen Kaste an, war vielleicht sogar ein Unberührbarer. In diesem Fall durfte sie von ihm keinen gekochten Reis annehmen.
    »Sie sind Brahmanin?« Der Anführer deutet Taras Zögern richtig. Sie glaubte einen Vorwurf in seinen Augen lesen zu können, und erneut schaffte er es, ihr Weltbild ins Wanken zu bringen. Sie fühlte sich ertappt, obwohl es keinen Grund dafür gab. Ja, sie war Brahmanin und gehörte somit der obersten Kaste an. Die Priester entstammten ihrer Kaste, und sie hatte die Pflicht, rein zu bleiben, kein Rinder- oder Büffelfleisch zu essen. Keine Zwiebeln und keinen Knoblauch. Keine Tiere zu töten. Und, ja, sich von Unreinen fernzuhalten. So war es immer gewesen, und sie hatte die Regeln nie in Frage gestellt.
    Bis jetzt. Ein leiser Zweifel rührte sich in ihrem Kopf, während der dunkle Mann ihr weiterhin geduldig und ohne eine Spur von Demut den Teller hinhielt. Er wirkte selbstbewusst, ganz anders als die Menschen der unteren Kasten, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatte. Plötzlich erinnerte sie sich an die Worte ihres Bruders: »Wir wollen Gleichheit.« Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass auch dies damit gemeint sein könnte. Noch immer wartete der Mann, als wüsste er um ihre Gedanken, die so neu und unerhört waren, dass Tara beinahe schwindelig wurde. Mehr um den anderen ihren Willen zu lassen denn aus wirklicher Überzeugung nahm sie dem dunklen Mann schließlich den Teller aus der Hand.
    »Danke«, sagte sie, und im selben Moment fühlte sie, dass etwas Wichtiges passiert war, auch wenn sie es nicht hätte benennen können.
    Die Teller leerten sich rasch. Sobald jemand aufgegessen hatte, bekam er einen Nachschlag, doch Tara winkte ab, eine Portion hatte ihr genügt. Während die anderen schweigend weiteraßen, hatte sie erstmals Muße, sie genauer zu betrachten.
    Zur Linken des dunklen Mannes saß der Wachtposten, dem sie auf dem Waldweg in die Arme gelaufen war und der nun, ohne sein buntes Tuch, weitaus weniger angsteinflößend aussah. Ihr gegenüber kauerte ein alter Mann, dessen Art, alles und jeden unter halb geschlossenen Augenlidern zu mustern, Tara einen Schauer über den Rücken jagte. Seine hellgrünen Augen erinnerten sie an den Milchsee, einen heiligen Gletschersee zwei Tagesmärsche von Raato Danda entfernt. Tara hatte niemals zuvor solche Augen bei einem Menschen gesehen. Auf seiner linken Wange prangte eine frische Schürfwunde, schwere Silberringe zogen seine Ohrläppchen in die Länge, und um den Hals trug er Schmuck aus Türkisen und Korallen. Sein graugesträhntes Haar reichte ihm bis über die Schultern, und sein Körper war in einen Chuba gehüllt, einen weiten knielangen Wickelmantel aus grob gewebter Wolle. Neben ihm lagen eine Umhängetasche und eine rote Wollmütze, mehr besaß er nicht. Er hielt einen auffälligen Abstand zu den anderen, und Taras Instinkt sagte ihr, dass er nicht zu den Rebellen gehörte. Jetzt traf sein heller Raubkatzenblick den ihren, und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie hätte nicht sagen können, warum sie sich plötzlich fürchtete, denn der Mann betrachtete sie nicht unfreundlich, eher ernst und fragend, und doch stimmte etwas nicht. Auch der Hund, der sich wie immer dicht bei Tara hielt, schien es zu

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