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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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verlorengehen können.
    »Du bist ein guter Mensch«, nahm Kim den Faden wieder auf. »Dir geht das hier alles ziemlich nahe, und ich befürchte, dass mein Land zu hart für dich ist. Versuch, dich zu entspannen. Ich passe schon auf, dass dir nichts passiert.«
    »Entspannen? Ich –« Anna konnte ihren Satz nicht beenden, denn in diesem Moment fuhr der Darjeeling Mail ein, und der Bahnsteig verwandelte sich in einen Hexenkessel. Anna klammerte sich an Kims Arm, um nicht von ihm fortgerissen zu werden. Die ersten Menschen enterten den noch fahrenden Zug, quetschten sich durch Türen und Fenster hinein, während die Passagiere auf dem Bahnsteig sie daran zu hindern versuchten. Sie schafften es trotzdem, und nun wurden Gepäckstücke und Kinder hinterhergeworfen. Der Zug rollte noch immer.
    »Wie sieht es aus? Hättest du dich dem aussetzen wollen? Mit Koffer?«, fragte Kim.
    Anna stand der Mund offen. »Ich dachte, alle hätten Platzkarten?«
    »Nicht in der dritten Klasse.«
    »Sie prügeln sich auch in der ersten Klasse«, bemerkte Anna und wies auf den vor ihnen zum Stehen kommenden Wagen. Im Inneren wogte ein wilder Tanz aus Armen, Beinen, Leibern und Koffern.
    »Dort ist meiner!«, rief sie aufgeregt. Das abgekämpfte Gesicht des Gepäckträgers erschien im Fenster. Als er Kim und Anna entdeckte, grinste er triumphierend. Er winkte ihnen zu, und Anna winkte zurück. Was auch immer Kim mit dem Mann ausgehandelt hatte, sie würde die Summe verdoppeln.
    Es dauerte mindestens eine Stunde, bis alles und jeder an seinem Platz war. Anna lag bäuchlings auf ihrer Pritsche und sah aus dem Fenster. Die Sonne sackte zum Horizont, rot und aufgebläht vom in der Luft hängenden Dunst, und verwandelte die Felder und Dörfer Bengalens in eine pastellfarbene Märchenlandschaft. Während der Zug in gemächlichem Tempo in Richtung des Himalayas nach Norden ratterte, fielen Anna endlich die Augen zu.

[home]
17
    W eit entfernt von dem durch Bengalen rollenden Zug wurde auch Tara schläfrig. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Seit mindestens einer Stunde saß sie, an einen Baum gelehnt, am Rand eines im Wald versteckten Lagers und wartete darauf, dass etwas geschah. Etwa zwei Dutzend Männer und drei Frauen, einige in Tarnanzügen, andere in Zivilkleidung, hielten sich im Schutz der Bäume versteckt, und auch sie schienen sich zu langweilen. Die friedliche Geschäftigkeit des Lagers drohte Tara einzulullen, aber ein Blick auf die bewaffneten Wachtposten belehrte sie eines Besseren: Der Frieden täuschte, es herrschte Krieg, und sie musste wachsam bleiben.
    Der Hund hörte sie zuerst. Mit einem Ruck hob er den Kopf und spähte mit gespitzten Ohren in das Dickicht auf der anderen Seite des Lagers. Etwas später drangen die Stimmen auch an Taras Ohr, und sie setzte sich auf, alle Muskeln und Sinne angespannt. Die anderen Menschen hielten in ihren Tätigkeiten inne. Eine atemlose Stille lag über dem Lager, während sich die Stimmen näherten. Die Wachtposten hoben ihre Gewehre, ließen sie aber wieder sinken, als erst zwei, dann fünf und schließlich zwölf Männer aus der Deckung des Unterholzes traten. Erleichterte Begrüßungsrufe flogen zwischen den Neuankömmlingen und den im Lager Zurückgebliebenen hin und her. Einer der Wachtposten zeigte mehrmals in Taras Richtung, während er auf einen Mann einredete. Tara ließ den Mann nicht aus den Augen. Wegen des Respekts, mit dem die anderen ihm begegneten, vermutete sie in ihm den Anführer. Sie wunderte sich über sein jugendliches Alter, doch vielleicht täuschte sie sich auch – er stand recht weit entfernt, und es war mittlerweile fast dunkel. Jetzt wandte er ihr den Kopf zu und musterte sie, dann hob er die Hand und winkte sie heran. Tara rappelte sich hoch, strich ihre verschmutzte Kurtha glatt und ging langsam zu der Männergruppe hinüber. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie fürchterlich aussehen musste. Was soll diese unangebrachte Eitelkeit?, dachte sie ärgerlich und gab sich einen Ruck. Als ob es hier irgendjemanden zu interessieren hätte, wie ich aussehe. Mit geradem Rücken schritt sie auf die Männer zu. Niemand brachte sie aus der Fassung, niemand. Niemand? Der Bhoot tauchte vor ihrem inneren Auge auf, und das verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie biss die Zähne zusammen. Nur jetzt nicht an den Bhoot denken, sie durfte keine Schwäche zeigen.
    »Wie geht es Ihnen? Haben Sie schon gegessen?«, fragte der Anführer, als sie vor ihm stand.
    »Wie bitte?«
    »Sie

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