Im Tal des Schneeleoparden
Schweigen, und dieses Schweigen wirkte auf Tara nur noch unheimlicher, denn davor hatte sie Hass in seinen Augen glimmen sehen, der ihrem ebenbürtig war.
Nach einer langen Pause wandte sich Tara noch einmal an den Anführer: »Ich habe eine Bitte. Könnten Sie eine Botschaft an meinen Vater senden? Ihm sagen, dass es mir gutgeht und er sich nicht zu sorgen braucht?«
Der Anführer zog die Augenbrauen hoch. »Haben Sie ihm denn keine Nachricht hinterlassen?«, fragte er erstaunt. »Ihre Familie wird sich allerdings Sorgen machen.«
Tara starrte auf ihre Hände, die ihr mit einem Mal entsetzlich hässlich vorkamen. Die tägliche Arbeit hatte sie rissig und plump werden lassen, die Nägel waren eingerissen und schmutzig. Hände, die in Büffelmist greifen oder eine Sichel schwingen, aber keinen Stift halten konnten. »Ich kann nicht schreiben«, flüsterte sie beschämt.
»Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«
Verblüfft sah Tara auf. Es kam nicht oft vor, dass sich jemand bei ihr entschuldigte.
»Natürlich werden wir Ihrem Vater eine Nachricht zukommen lassen«, fuhr der Anführer fort. »Wie heißt er?«
»Lamichhane. Dipendu Lamichhane aus Raato Danda. Mein Name ist Tara.«
»Dipendu Lamichhane? Er lebt?« Das Erstaunen des Alten schien noch größer zu sein als zuvor bei der Erwähnung des Bhoots.
Tara starrte ihn an. »Sie kennen meinen Vater? Wieso glauben Sie, dass er tot ist? Nun reden Sie doch!«
Abermals bekam sie keine Antwort, sosehr sie ihn auch drängte und dabei alle Höflichkeit vergaß. Der Mann mit den Gletscheraugen blieb stumm. Letztendlich musste sich Tara geschlagen geben. Sie verließ den Kreis und gesellte sich zu den Männern und Frauen, die sich ums Kochen und Abwaschen kümmerten. Hier gab es keine ungelösten Rätsel, hier wartete eine Arbeit, von der sie etwas verstand.
Später, als die anderen sie mit dem letzten rußgeschwärzten Topf beim heruntergebrannten Kochfeuer allein gelassen hatten, kam der Anführer zu ihr herüber und hockte sich neben sie. Tara schreckte auf. Sie war so in ihre Arbeit vertieft gewesen, dass sie ihn nicht hatte kommen hören. Der Mond war mittlerweile aufgegangen, und sein Licht hatte das Lager in eine Schattenwelt verwandelt, durch die geistergleich die Menschen huschten.
»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Man nennt mich Sarung. Meinen richtigen Namen lerne ich gerade zu vergessen.«
»Sarung?« Tara musste wider Willen lachen. »Wie die kleinen frechen Vögel mit der gelben Brille?«
Er lachte ebenfalls. »Meine Eltern haben mich früher häufig so genannt, weil ich sie als kleines Kind an diese Vögel erinnert habe. Er ist haftengeblieben.«
»Es gibt Schlimmeres.«
Tara griff eine Handvoll Asche aus der Feuerstelle und schrubbte mit der flachen Hand den Ruß vom Topf.
»Ich habe mich entschieden, Ihnen einen Begleiter zur Seite zu stellen«, nahm Sarung den Faden nach einer Weile wieder auf. »Bis Kathmandu sind es nur noch zweieinhalb Tagesmärsche, aber ab jetzt wird es immer gefährlicher.«
»Der Hund beschützt mich.«
»Er ist ziemlich gut darin, nicht wahr? Aber es wird nicht reichen. Die Wälder in den Bergen um das Kathmandu-Tal wimmeln von Rebellen, Soldaten und Mitgliedern der Sicherheitspolizei. Früher oder später geraten Sie an Leute, denen Ihre Antworten nicht passen.«
»Bestehen Sie darauf?«
»Ja. Ich habe auch schon mit einem meiner Männer gesprochen. Er wird Sie sicher bei unseren Genossen in Kathmandu abliefern.«
Tara strich sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wer ist es?«
Sarung wies auf einen Mann, der etwas entfernt auf dem Boden saß und sein Gewehr reinigte. Als er merkte, dass Tara und Sarung zu ihm hinübersahen, hob er die Hand und winkte ihnen zu. Unangenehm berührt erkannte Tara trotz der Dunkelheit den Mann wieder, der ihr das Essen gebracht hatte. Musste es ausgerechnet er sein? Immerhin schien der Mann keinen Groll gegen sie zu hegen.
»Er heißt Achal und ist ein Kamis. Ja, ein Schmied, meine liebe Brahmanin, ein Unberührbarer. Und nebenbei ist er mein engster und treuester Freund. Sie können sich auf ihn verlassen.«
»Sie müssen verstehen – ich bin so erzogen worden. Die neue Welt bricht gerade sehr schnell über mich herein.«
»Nicht nur über Sie. Wir haben Ihr Verhalten vorhin beim Essen zu schätzen gewusst, Tara. Es muss Ihnen sehr schwergefallen sein, aber Sie besaßen den Mut, den ersten Schritt zu
Weitere Kostenlose Bücher