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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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Deutschland relativiert«, sagte er lachend. »Seit ich wieder hier bin, kommt’s mir in Indien doch arg chaotisch vor.«
    »Was hast du denn studiert?«
    »Zoologie. Ich bin im Frühling fertig geworden und möchte nun in Indien arbeiten. Letzten Monat habe ich mich an der Uni in Kalkutta und bei einigen Schutzprojekten beworben. Im Moment warte ich auf Antworten.«
    »Was für Schutzprojekte?«
    »Tierschutz, Umweltschutz, beides ist ohnehin untrennbar miteinander verbunden.«
    »Ich finde es beeindruckend, etwas für Tiger und Nashörner und solche Tiere zu tun.«
    »Tiger und Nashörner? Ich dachte eher an Lurche und Schlangen. Ich bin Herpetologe.«
    »Noch nie gehört.«
    »Auch Kriechtierforscher genannt.«
    »Im Ernst?«
    »Sind dir die niederen Kreaturen zu unspektakulär?« Kim musterte sie amüsiert.
    »Nein, um Gottes willen, so habe ich es nicht gemeint. Es ist nur so, dass … Ach, vergiss es. Ich denke bei Zoologie eben nicht an Kriechtiere.«
    »Und Gewürm«, vollendete Kim trocken. »Dabei ist es mindestens genauso wichtig und interessant.«
    Anna sah peinlich berührt aus dem Fenster. Kim war vier Jahre jünger als sie, aber in den letzten zwei Tagen hatte sie immer wieder das Gefühl gehabt, er sei der Ältere. Es mochte daran liegen, dass er in zwei verschiedenen Kulturen aufgewachsen und daran gewöhnt war, sie miteinander zu vereinen. In seiner Gegenwart fühlte sie sich doppelt naiv, aber nicht nur ihre oftmals falsche Einschätzung der Umstände verunsicherte sie. Es war der junge Mann selbst. Sie musste sich eingestehen, dass sie es genoss, die neue Welt an seiner Seite kennenzulernen.
    Der Bus schlich noch immer im Schritttempo durch die staubigen, von Fahrradrikschas verstopften Straßen der Stadt. Der Fahrer versuchte vergeblich, sich den Weg freizuhupen – gegen die lebensmüde Gelassenheit der anderen Verkehrsteilnehmer hatte er keine Chance. Inmitten des Gewühls entdeckte Anna einen splitternackten, über und über mit grauer Asche eingeriebenen Mann. In der Hand hielt er einen Dreizack, sonst schien er nichts zu besitzen. Die Menschen nahmen von ihm genauso wenig Notiz wie von dem Bus.
    »Ein Sadhu
«,
erklärte Kim, der den Mann ebenfalls bemerkt hatte. »Ein heiliger Asket.«
    Anna ließ sich in ihren Sitz zurücksinken. »Was für ein Land«, stöhnte sie.
     
    Kurz nachdem sie Siliguri verlassen hatten, veränderte sich die Landschaft. Bäume beschatteten die gut ausgebaute Straße, und die bisher vorherrschenden Gelb- und Brauntöne wurden von einem satten, gesunden Grün abgelöst. Bald gewannen sie an Höhe, und der Wald zu beiden Seiten der Straße wurde dichter. Nach einer Stunde Fahrtzeit begann es zu regnen. Der Bus keuchte durch dichte Wolkenbänke, und Anna fror, obwohl sie ihre dicke Jacke angezogen hatte. Ihre Jeans und die warme Unterwäsche lagen unerreichbar im Koffer auf dem Dach. Die anderen Passagiere waren besser vorbereitet – hier und da tauchten warme Tücher, Fleecejacken und Wollmützen auf. Nach weiteren zwei Stunden, in denen der Regen immer eisiger geworden war, erreichten sie Darjeeling. Anna war enttäuscht. Statt der erwarteten Hill-Station-Romantik mit stilvollen Kolonialhäusern und dem Blick auf schneebedeckte Berge und Teeplantagen wurde sie von einer tristen Ansammlung grauer Häuser begrüßt, und von Aussicht keine Spur. In gedrückter Stimmung trottete sie hinter Kim her. Er hatte ihr den Koffer abgenommen, doch sie konnte trotzdem kaum Schritt halten. Darjeeling lag auf einer Höhe von 2100 Metern, und die dünne Luft machte Anna das Atmen schwer. Kim führte sie über steile Treppen und Straßen, die sie zu mehreren Verschnaufpausen zwangen. Mit pochendem Herzen erreichte sie schließlich das Hotel. Es war viel kleiner, als sie es sich vorgestellt hatte, mit gerade mal drei Stockwerken und vielleicht zwanzig Metern Länge war es nicht größer als ein kleines Mietshaus. Aber es gefiel ihr auf den ersten Blick. Die Fensterrahmen waren hellgrün, die Außenwände rosa gestrichen, und auf einem Holzschild über der Eingangstür prangte in liebevoll verschnörkelten Buchstaben der Name des Hotels: Laksmi’s Home.
    In diesem Moment flog die dunkelrote Tür auf, und eine rundliche Blondine rauschte auf Anna zu. »Da seid ihr ja! Ich habe mich so auf dich gefreut, Anna! Namaste!«
     
    Anna war ratlos. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals ein spartanischer eingerichtetes Hotelzimmer gesehen zu haben. Ein Bett, ein Stuhl, ein kleiner Tisch

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