Im Tal des Schneeleoparden
und ein winziges Regal bildeten das einzige Mobiliar. Immerhin bedeckte ein Teppich einen Teil des blanken Zementbodens, vor dem Fenster hing eine pinkfarbene Gardine, und an der Wand fand sich tatsächlich das gerahmte Kipling-Gedicht. Eine Heizung fehlte. In dem Raum war es nur unerheblich wärmer als draußen, ganz sicher nicht mehr als zehn Grad. Anna klapperten schon jetzt die Zähne, und sie fragte sich, wie sie die Nacht überstehen sollte. Laksmi’s Home lag an einem der höchsten Punkte der sich über einen Bergsattel erstreckenden Stadt und war dem Wind schutzlos ausgeliefert.
Da Anna beschlossen hatte, sich möglichst nicht mehr aus der Fassung bringen zu lassen, fügte sie sich ins Unvermeidliche und verteilte ihre Sachen auf Regal, Tisch und Stuhl. Sie hätte sich denken können, dass Ingrid und ihr Mann kein Fünf-Sterne-Hotel betrieben. Dann ging sie ins Bad, um heiß zu duschen. Leider wurde daraus nichts – nur ein Optimist hätte das Wasser als lauwarm bezeichnet. Anna war zum Heulen zumute. Sie war so müde und schmutzig wie selten in ihrem Leben, und nun das.
Und dann fing sie an zu lachen. Sie wusste nicht, woher das Lachen plötzlich kam, aber es hielt sie im Nacken gepackt und schüttelte sie, bis sie sich nicht mehr leidtat. Das Wasser lief immer noch und war eher kälter als wärmer geworden. »Na und?«, sagte sie laut und stellte sich unter den Strahl. Sie musste aufhören, sich wegen allem und jedem anzustellen wie eine Mimose. Heißes Wasser war wahrscheinlich ein Luxus, den sich kaum ein Inder leisten konnte, warum also sollte ausgerechnet sie eine Sonderbehandlung bekommen?
Als sie etwas später in den Gastraum hinunterging, fühlte sich Anna lebendig wie lange nicht mehr und grüßte einen die Treppe heraufsteigenden Touristen so überschwenglich, dass er sie sofort in ein Gespräch verwickeln wollte. Leider musste Anna passen, da ihr das wie durchgekaut klingende Englisch des Mannes völlig unverständlich war. Winkend sprang sie die Stufen hinunter. Die kalte Dusche kam ihr vor wie ein erster Schritt in die richtige Richtung, wenn sie auch noch keine rechte Vorstellung davon hatte, wohin die Reise ging. Aber das würde sich sicher bald zeigen.
Ingrid und die anderen bogen sich vor Lachen. Kim erzählte der um den größten Tisch des Gastraums versammelten Familie gerade von Annas unrühmlichem Erlebnis in einem Restaurant in Kalkutta. Sie hatte ihr Lassi für Soße gehalten und über das Curry gekippt, bevor Kim sie daran hindern konnte.
»Diese Joghurtpampe war so dick, dass ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen bin, es sei ein Getränk«, verteidigte sich Anna und rief mit ihrer Bemerkung noch größeres Gelächter hervor. Sollten sie sich doch auf ihre Kosten amüsieren. Anna spießte zufrieden einen weiteren Momo, eine Art tibetischer Ravioli, auf ihre Gabel und tunkte ihn in die Essigsoße. Der Empfang war so herzlich ausgefallen, dass sie sich schon nach wenigen Stunden wie ein Familienmitglied fühlte. Amüsiert verfolgte sie, wie Ingrid ein Hühnchen mit ihrer jüngsten Tochter Rikki-Tikki rupfte. Anna war sofort von der Offenheit und Energie des Mädchens eingenommen gewesen, die der ihrer Mutter in nichts nachstand.
Ingrid war eine auffällige Erscheinung. Ihre Größe zählte in westlichen Ländern zwar zum Durchschnitt, aber sie überragte die einheimischen Frauen deutlich, während ihre Haarpracht auch in Deutschland sicher zu verrenkten Hälsen führte. Eine Überfülle von aschblonden, teilweise ergrauten Locken kringelte sich um ihr rundes Gesicht und floss ihr über den Rücken bis fast zur Taille. In ihren blauen Augen hatte sich ein Lächeln eingenistet, das auch dann leuchtete, wenn sie ernst war. Ihr voller Mund, die roten Wangen und ihre füllige Figur verliehen ihr etwas Mütterliches, aber nicht das Aussehen machte aus Ingrid eine besondere Frau, sondern ihr Wesen. Ingrid sprühte vor Lebenslust und guter Laune, und Anna fragte sich, woran die Freundschaft zwischen ihrer Mutter und Ingrid zerbrochen sein mochte.
Mutter und Tochter beendeten ihren Zank mit lautem Lachen, und Anna schaltete sich wieder ins Gespräch ein.
»Ist Rikki-Tikki eigentlich dein richtiger Name?«, fragte sie.
»Nö. Ich heiße Riddhi. Aber Mama und Papa sagen immer, ich sei so neugierig und furchtlos wie der Mungo Rikki-Tikki aus den Dschungelbüchern.«
»Schon wieder die Dschungelbücher? Ich glaube, ich habe eine Bildungslücke zu schließen«, gab Anna zu. »Um
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